Frau Professorin, sind Apps die neue Medizin?
Jahr für Jahr strömen mehr medizinische Angebote in Form von Gesundheitsapps in die App-Stores. Wir haben eine Expertin gefragt, wo die digitalen Helfer schon überzeugen - und wo es vielleicht noch Verbesserungspotentiale gibt.
Frau Dr. Scherenberg, was für Gesundheits-Apps gibt es heute?
Die Bandbreite an Apps ist mittlerweile wirklich groß. Man kann sie in verschiedene Kategorien aufteilen, je nachdem wofür sie genutzt werden. Da gibt es Apps, die dabei helfen, Gesundheitsdaten zu dokumentieren oder das eigene Verhalten zu tracken. Andere Apps bieten Anleitungen oder vermitteln Kompetenzen für bestimmte Gesundheitsbereiche wie Ernährung oder Fitness. Außerdem kann man sie danach unterscheiden, ob sie kostenlos, kostenpflichtig oder verschreibungspflichtig sind. Verschreibungspflichtige Apps nennt man auch DIGAs - also digitale Gesundheitsanwendungen - und werden von Ärztinnen und Ärzten, Psychologinnen und Psychologen verschrieben, wenn eine medizinische Diagnose vorliegt.
Welche Vorteile bieten Apps im Vergleich zur traditionellen Gesundheitsversorgung?
Gesundheits-Apps haben einige Vorteile gegenüber herkömmlichen Behandlungsmethoden. Zum einen sind sie sehr flexibel, weil sie jederzeit und überall nutzbar sind. Sie ermöglichen eine einfache Dokumentation von Gesundheitsdaten und erinnern an gesunde Gewohnheiten, wie ausreichend Bewegung oder genug zu trinken. Außerdem können Apps anonym genutzt werden, was besonders bei sensitiven Gesundheitsthemen wie Depressionen oder Geschlechtskrankheiten hilfreich ist, die oft mit Scham, Schuld- und Angstgefühlen behaftet sind.
Gesundheits-Apps geben dem Patienten oder der Patientin mehr Kontrolle über die eigene Gesundheit.
Wie können Gesundheits-Apps bei der Behandlung von Krankheiten unterstützen?
Apps können sensibilisieren, aufklären und dazu beitragen, dass Gesundheitsdaten mit eigenen Verhaltensweisen in Verbindung gebracht und kritisch reflektiert werden. Das führt dazu, dass Patientinnen und Patienten besser informiert sind und den Ärztinnen und Ärzten mehr auf Augenhöhe begegnen können. Das hat wiederum positive Effekte auf die Zusammenarbeit und Therapietreue. In der Wissenschaft sprechen wir von partizipativer Entscheidungsfindung. Gesundheits-Apps geben dem Patienten oder der Patientin mehr Kontrolle über die eigene Gesundheit.
Welche Potenziale sehen Sie beim Thema Gesundheitsapps noch?
Gesundheits-Apps können dabei helfen, die Gesundheitskompetenz verschiedener Bevölkerungsgruppen zu stärken. Insbesondere passgenaue Apps können zum Beispiel bei chronisch kranken Menschen eine große Hilfe sein. Bei vielen digitalen Angeboten fehlt allerdings eine ausreichende Evaluierung langfristiger gesundheitlicher Erfolge. DIGAs haben da einen Vorteil, da ihre positiven Versorgungseffekte wissenschaftlich belegt sein müssen. Ein digitaler Beipackzettel, wie man ihn bereits von Medikamenten kennt, könnte helfen, die Ziele, Evidenz, Inhalte und angewandte Methoden von Apps transparenter zu machen und die Qualität mehr in den Fokus rücken.
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Gibt es noch weitere Herausforderungen?
Oft sind es vor allem die gesundheitsbewussten Nutzerinnen und Nutzer, die Gesundheits-Apps nutzen und von ihnen profitieren. Diejenigen, die Apps am meisten benötigen, nehmen sie in der Regel am wenigsten in Anspruch. Dieses Phänomen bezeichnen wir in der Wissenschaft als Präventionsdilemma. Deshalb ist es wichtig, Anreize zu schaffen, die die Apps attraktiver machen, zum Beispiel über Gamification- oder Nudging-Elemente. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die klassische Schritt-Challenge . Ziel muss es sein, Nutzende zur selbstbestimmten Verhaltensänderungen zu ermutigen, ohne sie zu manipulieren.
Wohin wird sich das Gesundheitswesen in den nächsten zehn Jahren entwickeln?
Die digitale Gesundheitsversorgung der Zukunft muss stärker auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten werden. Hierfür könnten maßgeschneiderte Angebote basierend auf Technologien wie Gesundheits-Apps, Virtual Reality und künstlicher Intelligenz mit der "realen" Behandlung verknüpft werden. Ein Beispiel wäre hier die personalisierte Entspannungs-App unterstützend zur Angsttherapie. Solche hybriden Behandlungsansätze, aus Online- und Offline-Komponenten, haben sich in wissenschaftlichen Studien bereits im Vergleich zu klassischen Ansätzen als besonders wirksam erwiesen.
Prof. Dr. Viviane Scherenberg ist Dekanin und leitet den Fachbereich Public Health und Umweltgesundheit an der APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft in Bremen. Zudem ist sie seit 2020 Vizepräsidentin für den Bereich "Strategische Kooperationen und Transfer".