Zur Sache: Pflege- und Behandlungsfehler in Hamburg
Interview aus Hamburg
Im Vergleich zum Vorjahr ist die Anzahl der gemeldeten Behandlungsfehler in Hamburg im Jahr 2023 gestiegen. Das geht aus einer aktuellen Auswertung der Techniker Krankenkasse (TK) hervor. Demnach vermuteten im vergangenen Jahr insgesamt 315 TK-Versicherte in der Hansestadt einen ärztlichen oder pflegerischen Fehler bei ihrer Behandlung und meldeten diesen ihrer Krankenkasse - 2022 lag die Zahl der gemeldeten Fälle noch bei 261.
Christian Soltau ist Medizinrechtsexperte der TK. Im Interview spricht er mit uns über die aktuelle Entwicklung und darüber, was Versicherte tun können, wenn sie befürchten, Opfer eines Behandlungsfehlers geworden zu sein.
TK: Herr Soltau, 2023 haben sich 315 Versicherte in Hamburg an die TK gewandt, weil sie einen Pflege- oder Behandlungsfehler vermuteten. Wo passieren die meisten Fehler und wie oft erhärtet sich der Verdacht?
Christian Soltau: Im Jahr 2022 verzeichneten wir die meisten Verdachtsfälle mit rund 30 Prozent regelmäßig im chirurgischen Bereich. Aus der Orthopädie stammen ca. sechs Prozent und aus der Pflege rund drei Prozent der gemeldeten Fälle. Bei diesen Zahlen muss man aber wissen, dass hinter den gemeldeten Fällen auch noch eine sehr hohe Dunkelziffer liegt. Auf jeden uns gemeldeten Fall kommen 30 nicht gemeldete. Insofern zeigen die Zahlen nur die Spitze des Eisbergs. Natürlich entpuppt sich aber nicht jeder Verdachtsfall letztendlich auch als Fehler. Oftmals handelt es sich um einen schicksalhaften Verlauf, wobei der Unterschied für die Patientin oder den Patienten nur schwer erkennbar ist. Nur bei etwa jedem dritten Fall erhärten sich die Hinweise tatsächlich auf einen Behandlungsfehler.
TK: Was können Patientinnen und Patienten tun, die den Verdacht haben, Opfer eines Pflege- oder Behandlungsfehlers geworden zu sein?
Soltau: Wir empfehlen immer, dass sich die Betroffenen frühzeitig an ihre Krankenkasse wenden, um sich von dort Hilfe zu holen. Wir lassen die Fälle von Expertinnen und Experten prüfen, und sollte sich der Verdacht erhärten, können wir medizinische Sachverständigengutachten erstellen lassen. Diese sind für die Versicherten in der Regel kostenfrei und können von ihnen für ihre Schadensersatzverhandlungen mit der Ärztin oder dem Arzt, dem Krankenhaus, der zuständigen Haftpflichtversicherung oder vor Gericht genutzt werden. Beschreitet die TK den Klageweg, übernehmen wir sozusagen für die Versicherten die Vorreiterrolle im gerichtlichen Verfahren. Dieser kann den Ausgang des Prozesses abwarten und dadurch einschätzen, ob eine eigene Klage Aussicht auf Erfolg hat. Im vergangenen Jahr haben wir bundesweit in 2.160 Fällen Gutachtenaufträge zur Klärung von Behandlungsfehlervorwürfen erstellt. Aktuell laufen 168 Streitfälle, hiervon 118 im gerichtlichen Verfahren. Der älteste Streitfall wird seit Dezember 2008 vor Gericht verhandelt.
Übrigens: Je besser die Krankengeschichte dokumentiert ist, desto höher sind die Aussichten auf Erfolg. Patientinnen und Patienten sollten deshalb in einem Gedächtnisprotokoll festhalten, wie die Behandlung ablief und welche Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende beteiligt waren. Die elektronische Patientenakte (ePA) kann hier für die Betroffenen sicherlich eine wertvolle digitale Hilfe sein.
Wir brauchen eine offene Fehlerkultur ohne persönliche Sanktionen für die Behandelnden, eine patientenfreundlichere Rechtsprechung und damit auch kürzere Verfahrensdauern.
TK: Woran liegt es, dass die Verfahren vor Gericht in bestimmten Fällen so lange dauern?
Soltau: In der Tat dauern die Verfahren zur Feststellung eines möglichen Behandlungsfehlers viel zu lange. So konnten wir zum Beispiel feststellen, dass in jedem dritten betrachteten Sachverhalt drei oder mehr medizinische Gutachten erstellt wurden. Das zeigt uns deutlich, dass die derzeitige Rechtsprechung, bei der der Betroffene den Schaden nachweisen muss, einfach patientenunfreundlich ist. So kann beispielsweise derzeit eine Patientin oder ein Patient kaum beweisen, dass er sich bei der Einnahme von Medikamenten genau an den Beipackzettel gehalten hat. Es ist daher fast unmöglich, einen Arzneimittelhersteller für ein fehlerhaftes Medikament zur Verantwortung zu ziehen. Hinzu kommt, dass die Pharmaunternehmen immer auch eine andere denkbare Ursache für den unerwünschten Verlauf einer Behandlung anführen können.
Ein weiteres Hemmnis für schnellere Entschädigungsverfahren liegt auch darin, dass Ärztinnen und Ärzte, wenn sie einen Fehler zugeben, gleich in Gefahr geraten, ihren Haftpflichtanspruch zu verlieren. Auch gezielte Verzögerungstaktiken seitens der Haftpflichtversicherungen führen zu unnötigen Verfahrenslängen. Die Verfahren müssen daher viel schneller abgewickelt und die Betroffenen frühzeitig entschädigt werden. Was wir hierfür auch brauchen, sind mehr Spezialkammern für arzthaftungsrechtliche Fragen.
TK: Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung ist die Einrichtung eines Härtefallfonds vorgesehen, um Patientinnen und Patienten bei der Durchsetzung von Ansprüchen zu helfen. Wie muss dieser ausgestaltet sein?
Soltau: Die Menschen brauchen schneller Hilfe, denn bei schweren Fällen können sie nach einem Behandlungsfehler häufig nicht mehr arbeiten und sind in ihrer Existenz bedroht. Eine Möglichkeit, wie das gelingen kann, ist ein sogenannter Patientenentschädigungs- und Härtefallfonds. Damit könnte Betroffenen innerhalb weniger Monate unbürokratisch geholfen werden. Der Entschädigungsfonds sollte die arzthaftungsrechtlichen Regelungen ergänzen und nicht ersetzen und zunächst in einem auf zehn Jahre angelegten Modellprojekt für den stationären Bereich erprobt werden. Darüber hinaus brauchen wir eine offene Fehlerkultur ohne persönliche Sanktionen für die Behandelnden, eine patientenfreundlichere Rechtsprechung und damit auch kürzere Verfahrensdauern. Daher begrüßen wir als TK, dass Leistungserbringer zur Aufnahme einer Berufshaftpflichtversicherung verpflichtet werden und Vorwürfe umgehend ihrer Versicherung melden müssen. So kann gewährleistet werden, dass Geschädigte ihre Ansprüche umgehend geltend machen können.
TK: Eine TK-Kooperation mit dem Critical Incident Reporting System (CIRS) soll die Patientensicherheit auch in Krisensituationen erhöhen. Was ist das Besondere an der Kooperation?
Soltau: CIRS ist ein Berichtssystem zur anonymisierten Meldung von kritischen Ereignissen und Beinahe-Schäden in Einrichtungen des Gesundheitswesens in Krankenhäusern. Im Rahmen einer neuen TK-Kooperation wird das System erstmals auch für Patientinnen und Patienten geöffnet. Dadurch haben sie online die Möglichkeit, anonymisiert von ihren positiven und negativen Erfahrungen mit COVID-19 zu berichten. Gerade in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie ist es wichtig, die Akteure im deutschen Gesundheitswesen bei der Gewährleistung einer sicheren Patientenversorgung zu unterstützen. Die Rückmeldungen der Versicherten über ihre positiven und negativen Erfahrungen bieten dafür wertvolle Hinweise.