Wir müssen in unserer Gesellschaft eine Kultur der Organspende entwickeln
Interview aus Schleswig-Holstein
Im Interview beantwortet Prof. Dr. med. Felix Braun, Transplantationsbeauftragter am UKSH Campus Kiel, Fragen zum Thema Organtransplantation und erläutert, wie die Bereitschaft zur Organspende gesteigert werden kann.
TK: In den letzten beiden Jahren hat der Bundestag zwei Gesetze verabschiedet, die darauf abzielen den Organspendeprozess zu optimieren und die Spendenbereitschaft zu erhöhen. Wie haben sich seitdem die Organspendezahlen entwickelt?
Prof. Dr. med. Felix Braun: Die Organspenderzahlen in SH schwanken seit 2000 zwischen 20 und 48 Spendern pro Jahr. Über die vergangenen beiden Jahre verzeichnen wir am UKSH, trotz Pandemie, einen leichten Anstieg von 23 in 2019 auf 27 in 2020 und 32 in 2021. Dennoch reichen die verfügbaren Spenderorgane nicht zur Versorgung der Wartelistenpatientinnen und -patienten. Bundesweit sterben täglich drei Menschen auf der Warteliste. Zwei Gesetzesinitiativen sollen die Situation verbessern. Das "Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende" (GZSO) und das "Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft zur Organspende" (GSEO) wurden 2019 und 2020 verabschiedet.
Das GZSO regelt die finanzierte Freistellung der Transplantationsbeauftragten, die sich um den Organspendeprozess vor Ort kümmern und zu mehr Achtsamkeit bei der Erkennung potentieller Organspender beitragen. Die Organspende-Strukturen müssen jetzt in den Entnahme-Krankenhäusern umgesetzt werden. Begleitet wird dieser Prozess von einer bei der Bundesärztekammer angesiedelten Arbeitsgruppe, die ein bundesweites Transplantationsbeauftragten-Netzwerk aufbauen soll und bei der ich mitwirken darf.
Das GSEO beinhaltet ein Organspenderegister, welches hoffentlich eine große Hilfe bei der Abklärung der Organspendebereitschaft sein wird. Oftmals ist die Entscheidung nicht bekannt und die Angehörigen entscheiden nach dem mutmaßlichen Willen. Ziel des Registers ist es, sowohl Angehörige als auch Krankenhauspersonal zu entlasten, wenn eine Entscheidung zu Lebzeiten elektronisch hinterlegt wurde. Aufgrund der Corona-Pandemie verzögert sich die Einführung des Registers aber noch.
Bitte entscheiden Sie sich zu Lebzeiten, ob Sie ihre Organe im Falle ihres Todes spenden möchten oder nicht und muten Sie nicht ihren Angehörigen diese Entscheidung zu.
Natürlich sind Organspenderausweise und mündliche Willensäußerungen weiterhin gültig und wichtig. Daher mein Appell: "Bitte entscheiden Sie sich zu Lebezeiten, ob Sie ihre Organe im Falle ihres Todes spenden möchten oder nicht und muten Sie nicht ihren Angehörigen diese Entscheidung zu". Die beiden Gesetze werden durch den Gemeinschaftlichen Initiativplan Organspende (GIPO) flankiert, der eine Vielzahl an begleitenden Maßnahmen vorsieht, zu denen auch das gegenseitige Lernen voneinander zwischen den Entnahme-Krankenhäusern gehört.
TK: Wie sieht die Organspende-Situation derzeit am UKSH aus?
Prof. Braun: Auch hier unterliegen die Transplantationszahlen Schwankungen und wir würden gern noch mehr Wartelistenpatientinnen und -patienten durch eine Transplantation helfen. In den vergangen 20 Jahren erfolgten jährlich zwischen 112 bis 209 Organtransplantationen an beiden Standorten des UKSH. In 2020 führten wir tatsächlich mehr Lebertransplantationen durch, als in den Vorjahren. Dies mag ein Umverteilungseffekt durch die Covid-19-Pandemie seien. Nach dem Umzug ins neue Klinikum 2020 hatten wir durch die Aufstockung der Intensivbetten ausreichend Kapazität und konnten zeitnah kritisch kranke Patientinnen und Patienten zur Lebertransplantation übernehmen.
Die Zuteilung der Spenderorgane erfolgt nach Erfolgsaussicht und medizinischer Dringlichkeit, die bei den akut-auf-chronisch Leberkranken hoch ist, so dass mehr Lebertransplantationen erfolgten. Die Hepatologie am Campus Lübeck wurde durch die Berufung von Professor Marquardt gestärkt. Schlussendlich funktioniert eine über Jahre aufgebaute Netzwerkstruktur, die Krankenhäuser, Schwerpunktpraxen und niedergelassene Ärztinnen und Ärzte mit dem Transplantationszentrum verbindet. Kurze Wege mit kompetenten Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern führen zu schnellen Entscheidungen zum Wohle der Patientinnen und Patienten in unserer Region. In Kiel erfolgten 2021 zudem mehr Nierentransplantationen. Mein großer Dank gilt hier den Mitarbeitenden im Transplantationsteam und insbesondere der Krankenpflege, die 24/7 einen so großartigen Job leisten.
TK: Seit Beginn der Pandemie konzentrieren sich die Intensivstationen vor allem auf Covid-19-Patientinnen und -Patienten. Hat das auch Auswirkungen auf Menschen, die auf ein Spenderorgan warten?
Prof. Braun: Die Covid-19-Pandemie hat in Deutschland bislang nicht zu einem Einbruch der Organspende und der Transplantationszahlen geführt. Im Ausland (England, Spanien, USA) sind die Transplantationszahlen teilweise erheblich eingebrochen, insbesondere auch weil elektive Lebendspende-Transplantationen ausgesetzt wurden. Unsere Wartelistenpatientinnen und -patienten und Organtransplantierten erhalten die Empfehlung, sich gegen Covid-19 impfen und boostern zu lassen. Hierzu sind teilweise Modifikationen der Immunsuppression erforderlich, um das Impfansprechen zu verbessern. Alle Patientinnen und Patienten werden zur Transplantation auf Covid-19 getestet ebenso wie potentielle Organspender. Eine aktive Covid-19-Infektion würde eine Organspende ausschließen. Bislang mussten wir keine Transplantation wegen Covid-19-Restriktionen absagen, jedoch pausierten wir phasenweise planbare Lebendspende-Nierentransplantation.
TK: Derzeit warten fast 400 Menschen aus Schleswig-Holstein auf ein lebensrettendes Spenderorgan. Wo sehen Sie innerhalb von Kliniken Möglichkeiten, die Bereitschaft zur Organspende zu erhöhen?
Prof. Braun: Die Transplantationsbeauftragten sind ein wesentlicher Schlüssel zur Steigerung der Organspende in den Krankenhäusern. Die gesetzlich geregelte, finanzierte Freistellung ist dringlichst umzusetzen, damit die Transplantationsbeauftragten ihrer Tätigkeit vollumfänglich nachkommen können. Dies bedeutet in dem Moment, wo der Transplantationsbeauftragte benötigt wird, auch verfügbar zu sein. Zu dessen Aufgaben gehören die Klärung von Fragen im Organspendeprozess, die Erkennung potentieller Organspenderinnen und Organspender, interne und externe Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich Organspende, die Erstellung von standardisierten Vorgehensweisen zur Optimierung der Organspende-Prozesse, eine jährliche Spenderpotentialanalyse im Entnahme-Krankenhaus und das Berichtswesen gegenüber dem Vorstand. Seit zwei Jahren erhalten wir einen Transplantationsbeauftragten-Bericht, der eine Orientierung über die Organspendeaktivität der eigenen Klinik im Vergleich zu anderen Entnahmekrankenhäusern ermöglicht und hierdurch eine effektive Prozessanalyse ermöglicht.
Transplantationsbeauftragte sind ein wesentlicher Schlüssel zur Steigerung der Organspende in den Krankenhäusern.
Im eigenen Haus gelang es die Achtsamkeit für die Organspende zu erhöhen, in dem bei potentiellen Organspendern die Transplantationsbeauftragten vor Beendigung aller Therapiemaßnahmen hinzugezogen werden. Die gemeinsame Abklärung und Berücksichtigung des Patientenwillens zum Lebensende steht hierbei im Vordergrund. Insgesamt stieg hierdurch die hausinterne Spenderrate. Die Spendererkennung bleibt dennoch ein wesentliches Schwerpunktthema für Transplantationsbeauftragte. Ein Lösungsansatz könnte die prospektive elektronische Spendererkennung werden, die an der Universitätsklinik Dresden entwickelt wurde und zu deutlichen höheren Spenderraten gegenüber anderen Universitätskliniken führte.
Zur Stärkung der Transplantationsbeauftragten hat die Bundesärztekammer eine Arbeitsgruppe eingerichtet, in der ich mitwirken darf und Impulse geben kann. Insbesondere möchten wir eine bundesweite Netzwerkstruktur für Transplantationsbeauftragte aufbauen und haben gegenwärtig eine Statuserhebung der Tätigkeit durchgeführt. Neben den beiden Gesetzesänderungen wurde der GIPO aktiviert, der viele Projekte zur Steigerung der Organspende beinhaltet und mit kurz-, mittel- und langfristigen Zielen weiterverfolgt wird.
TK: Was sind weitere mögliche Stellschrauben, um für das Thema zu sensibilisieren?
Prof. Braun: Es gibt schon eine ganze Reihe von Maßnahmen, die für Organspende sensibilisieren. Der Tag der Organspende gibt Anlass, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und findet regelhaft am ersten Juni-Wochenende statt.
In den Krankenhäusern sollte das Thema Organspende routinemäßig bei Aufnahme mit abgefragt werden. Den Effekt gesteigerter Achtsamkeit haben wir 2018 erlebt, als Organspende sehr stark in den Medien präsent war. Eine Stellschraube, die ich persönlich gerne weiterentwickeln möchte, ist das Projekt "Organspende macht Schule". Wer den Tod und das Leid von Wartelistenpatientinnen und -patienten sowie deren Angehörigen erlebt hat, versteht, warum man das Thema nicht von sich wegschieben sollte. Die Auseinandersetzung mit dem Thema beginnt meist erst, wenn man persönlich betroffen ist. Eine Aussage, die ich oft genug höre, ist "ich wollte mich schon immer mit dem Thema beschäftigen, aber…" Eine zu Lebzeiten nicht getroffene Entscheidung führt zur Übertragung der Entscheidungsverantwortung auf die Angehörigen. Man kann nur inständig darum bitten, dass sich jede und jeder zu Lebzeiten entscheidet und diese Entscheidung seinen Angehörigen mitteilt, oder noch besser, künftig dann auch im Organspenderegister aufnehmen lässt.
TK: Als Transplantationsbeauftragter sprechen Sie mit Betroffenen und Angehörigen über mögliche Organspenden. Welche Herausforderungen stellen sich hierbei? Und wie führen Sie diese hochemotionalen Gespräche, um positiv auf die Entscheidung einwirken zu können?
Prof. Braun: Die Angehörigen kommen oftmals von sich aus auf das Krankenhauspersonal zu und sprechen das Thema Organspende an. Insgesamt sind die Gespräche über die Entscheidung zur Organspendebereitschaft meist sehr sachlich und werden entscheidungsoffen geführt. Die Transplantationsbeauftragten sind heutzutage geschult und erhalten ein Kommunikationstraining. Da Spendenprozesse jedoch in vielen Krankenhäusern selten vorkommen, gibt es für viele keine Routine. Eine gute Option ist in diesem Fall das Hinzuziehen eines Koordinators der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), da dieser oftmals mehr Routine mitbringt und die Rückmeldungen von Angehörigen zu den gemeinsamen Gesprächen mit Einbindung der DSO sehr positiv sind.
Die schwierigste Arbeit in dem Spendeprozess leistet jedoch die Pflege, da diese 24/7 mit den Angehörigen und der Spenderin oder dem Spender in Kontakt steht. Dies ist eine besonders hohe emotionale Belastung. Deshalb sind Nachbesprechungen von Organspenderprozessen sehr hilfreich und sollten immer angeboten werden. Insgesamt hilft es, das Thema Organspende sachlich und nicht emotional zu thematisieren, so dass wir in unserer Gesellschaft eine "Kultur der Organspende" entwickeln.