Gerade wenn Demenzerkrankte Gefahr laufen, sich oder andere aufgrund ihrer Erkrankung zu verletzen oder der Leidensdruck der Betroffenen besonders hoch ist, können Antipsychotika helfen. Leider zeigen Studien, dass Beruhigungsmittel in Pflegeheimen zu häufig eingesetzt und vor allem nicht mehr abgesetzt werden. Dabei haben sie je nach Dosis unangenehme Nebenwirkungen wie Bewegungsstörungen, Schwindel und Müdigkeit. Außerdem erhöhen sie die Sturzgefahr und das Schlaganfallrisiko, verschlechtern die kognitive Leistungsfähigkeit und verringern insgesamt die Lebensqualität.

Aufklärung steht im Vordergrund

Um die Verschreibungshäufigkeit von dämpfenden Psychopharmaka bei dementiell erkrankten Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeheimen und ambulant betreuten Wohngemeinschaften in Bayern nachhaltig zu reduzieren, wurde das DECIDE-Projekt ins Leben gerufen. DECIDE steht für Reduktion sedierender Psychopharmaka bei Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern mit fortgeschrittener Demenz. Das Projekt wird vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege gefördert. Unter der Leitung von Prof. Dr. Janine Diehl-Schmid setzt Dr. Sarah Kohl, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie am Zentrum für kognitive Störungen in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums Rechts der Isar, das Projekt derzeit um.
 
DECIDE richtet sich an alle, die mit Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner mit Demenz zu tun haben: Angehörige, Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal, Amtsrichterinnen und -richter, Apothekerinnen und Apotheker. "Die Aufklärung steht im Vordergrund", sagt Kohl. "Und wir möchten die Angst vor dem so genannten De-prescribing - dem Absetzen der Medikamente - oder dem Reduzieren der Dosis - nehmen. Denn es gibt Studien, die zeigen, dass das in vielen Fällen ohne Nebenwirkungen möglich ist." Wichtig ist für Sarah Kohl vor allem, dass Antipsychotika nicht verteufelt werden. Es gelte, bei jedem Einzelfall genau zuschauen, ob Beruhigungsmittel vorübergehend eingesetzt werden sollten oder ob man darauf verzichten kann.

Dr. Sarah Kohl

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Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
 

Eine besondere Rolle haben dabei auch die Angehörigen, da Demenzerkrankte meistens nicht mehr selbst über die persönlichen Einschränkungen durch die Medikamente sprechen können. Für sie bietet das Projekt neben umfangreichem Informationsmaterial in einfacher Sprache auch eine Hotline an. Bei dieser können die Angehörigen fachärztlichen Rat einholen, ob eine Medikationsanpassung bei der bzw. dem dementen Angehörigen angebracht sein könnte. Mit den entsprechenden Informationen können die Angehörigen sich später souveräner mit dem Pflegeheim bzw. dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin besprechen. Fachleute finden auf der Webseite zudem Studien, Artikel und Fallbeispiele.

Medikationspläne individuell besprechen

Um die Nachhaltigkeit ihrer Arbeit sicherzustellen, besucht Sarah Kohl 50 zufällig ausgewählte Pflegeheime in Bayern, hinzu kommen zehn Demenz-WGs. Dort studiert sie die Medikationspläne, bespricht Einzelfälle und empfiehlt mögliche Veränderungen bei der Medikation. "Die letztendliche Entscheidung hat natürlich der behandelnde Arzt bzw. die behandelnde Ärztin", sagt Kohl. "Diejenigen, die sich für das Projekt interessieren, freuen sich über die Unterstützung." Bei ihren Besuchen im Heim bietet Dr. Kohl zudem eine Fortbildung für das Pflegepersonal an, die immer sehr großen Anklang findet. "Oft kommen Pflegekräfte danach zu mir und sagen, dass sie zwei, drei Patientinnen oder Patienten im Kopf haben, bei denen man versuchen könnte, die Medikation zu verändern", sagt sie.

Umgang mit Verhaltenssymptomen entscheidend

Personal- und Zeitmangel, die Coronapandemie und die persönliche Einstellung einzelner Pflegepersonen spielen laut Kohl beim Thema Psychopharmaka in Pflegeheimen eine Rolle. "Es gibt generell große Unterschiede unter den Pflegeheimen", erklärt sie. "Der Anteil der Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner mit Demenz, die Beruhigungsmittel bekommen, schwankt zwischen 30 und 70 Prozent, manchmal schwankt der Wert auch zwischen den einzelnen Stationen eines Heims sehr stark. Das kann auch an der Einstellung des Pflegeteams liegen. Ob ein Verhalten stört, ist nun einmal eine persönliche Sache. Einer gibt sofort ein Medikament, ein anderer bleibt wertschätzend, zugewandt und nimmt sich Zeit. Deshalb ist die Schulung so wichtig." 

Bei dieser geht es neben der Aufklärung rund um Beruhigungsmittel auch um den Umgang mit bestimmten Verhaltenssymptomen bei Menschen mit Demenz. Zunächst sollte die Ursache abgeklärt werden: Hat der Bewohner oder die Bewohnerin Schmerzen, kann er sich nicht anders ausdrücken, ist er unter- oder überfordert? Dann sollten die auslösenden Faktoren behandelt werden. Sollte das nicht helfen oder können die auslösenden Faktoren nicht identifiziert werden, sollten weitere nicht medikamentöse Maßnahmen verschrieben werden, wie Ergotherapie, Bewegungstherapie, kognitive Stimulationsverfahren, Entspannungsverfahren. Manchmal kann eine vorübergehende Eins-zu-Eins-Betreuung zu einer Linderung der Verhaltenssymptome führen. "Was all diese Maßnahmen eint, ist, dass sie personal- und zeitaufwändig sind. Im Vergleich dazu wirken Medikamente natürlich zeitsparend", so Kohl.

Für Patientensicherheit sensibilisieren

13 Pflegeheime und vier Demenz-WGs hat die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie bereits besucht und Handlungsempfehlungen mit den Kolleginnen und Kollegen, die das jeweilige Heim betreuen, besprochen. Sie geht davon aus, dass bei der Hälfte der demenzerkrankten Bewohnerinnen und Bewohner die Medikamentendosis reduziert oder die Beruhigungsmittel komplett abgesetzt werden können - zumindest für einen bestimmten Zeitraum. "Der Bewohner oder die Bewohnerin muss beispielsweise mindestens drei Monate stabil sein, man sollte in 25-Prozent-Schritten die Dosis reduzieren mit maximal ein bis zwei Schritten pro Woche." Natürlich gibt es laut Kohl auch berechtigte Sorgen, dass Verhaltenssymptome zurückkehren und das Personal die Betreuung nicht schafft. Aber sollten die Symptome tatsächlich wieder auftreten und mit nicht-medikamentösen Verfahren nicht zu lindern sein, dann können Antipsychotika in möglichst niedriger Dosierung auch wieder angesetzt werden.

Das Thema Demenz und Beruhigungsmittel wird immer wichtiger, davon ist Sarah Kohl überzeugt. "Jetzt ist die Zeit, um für die Patientensicherheit rund um diese Medikamente zu sensibilisieren", sagt sie. "Wir forschen deshalb nicht im stillen Kämmerchen, sondern gehen an die Öffentlichkeit und bekommen sehr viel positive Resonanz. Demenz kann man zwar nicht heilen, aber man kann so viel verbessern. Und das hilft letztendlich nicht nur den Erkrankten, sondern auch ihrem ganzen Umfeld."