TK: Die Reform der Notfallversorgung steht an. Wie könnte, möglichst kostenneutral, das aktuelle Nebeneinander aus ambulanten Notdiensten und Notaufnahmen der Krankenhäuser besser koordiniert werden? Und was muss sich ändern, dass die Patientinnen und Patienten die richtige Anlaufstelle finden und nicht durch Fehlsteuerung die knappen Ressourcen im Gesundheitsbereich unnötig zusätzlich belasten?

Der Schlüssel zu einer flächendeckenden Versorgung liegt in der Auflösung von starren Versorgungsgrenzen. 
Martina Stamm-Fibich

Martina Stamm-Fibich: Seit dem 17. Juli 2024 liegt ein Regierungsentwurf für die Reform der Notfallversorgung vor. Um die chronisch überlasteten Notaufnahmen zu entlasten, führt die Ampel-Koalition zwei neue Einrichtungen ein: Die sogenannten Akutleitstellen und die Integrierten Notfallzentren. In den Akutleitstellen können Ärztinnen und Ärzte telefonisch oder per Video einschätzen, wie dringend Patientinnen und Patienten behandelt werden müssen. Leichte Fälle werden damit an den ärztlichen Bereitschaftsdienst weitergeleitet und kommen nicht mehr unnötigerweise in die Notaufnahme. 

Martina Stamm-Fibich

Martina Stamm-Fibich, Bundestagsabgeordnete der SPD und Patientenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Bundestagsabgeordnete der SPD, Patientenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied im Bundestagsausschuss für Gesundheit

 

Die Integrierten Notfallzentren werden an vorhandene Krankenhäuser angedockt und bestehen aus einer Notdienstpraxis und einer Notaufnahme. Vor Ort kann dann bei der Aufnahme direkt gesteuert werden, ob Patientinnen und Patienten in die Notaufnahme müssen, oder ob die Überweisung zur ambulanten Notdienstpraxis im selben Haus ausreicht. Ich glaube, dass wir mit diesen beiden Lösungsansätzen wichtige Schritte in die richtige Richtung gehen.

TK: Im internationalen Vergleich stehen im deutschen Gesundheitssystem relativ viele Beschäftigte pro Einwohner zur Verfügung. Dennoch kommt es aufgrund einer größeren Zahl an Fällen bzw. Patientinnen und Patienten pro Einwohnerinnen und Einwohner zu einer vergleichsweise hohen Arbeitsbelastung der Beschäftigten. Welche strukturellen Schwächen im deutschen Gesundheitssystem müssen behoben werden, um die Versorgung zu sichern?

Wir müssen darauf achten, dass nur das bezahlt wird, was auch nachgewiesenermaßen wirkt. 
Martina Stamm-Fibich

Stamm-Fibich: Richtig ist, dass wir in Deutschland pro Einwohnerin bzw. Einwohner vergleichsweise viel Personal im Gesundheitswesen haben. Dabei muss aber auch erwähnt werden, dass die deutsche Bevölkerung im internationalen Vergleich überdurchschnittlich alt ist. Wer alt ist, der ist leider auch häufiger krank. So lassen sich die hohen Fallzahlen zum Teil erklären. 

Allerdings gibt es hier innerhalb Deutschlands extrem große Unterschiede. So ist die durchschnittliche Krankheitslast in Ostdeutschland und im Ruhrpott beispielsweise deutlich höher als in Baden-Württemberg. Diese regionalen Unterschiede müssen wir immer mitdenken und deshalb brauchen die Länder und Kommunen auch genügend Beinfreiheit für individuelle Lösungsansätze. 

Grundsätzlich glaube ich, dass der Schlüssel zu einer flächendeckenden Versorgung in der Auflösung von starren Versorgungsgrenzen liegt. Das kann zum Beispiel in Form von Primärversorgungszentren oder mehr Delegation und Substitution von ärztlichen Leistungen - Stichwort Community Health Nurse - geschehen. Ich halte es gerade im ländlichen Raum für zielführend, wenn wir uns auch mal an anderen Ländern wie beispielsweise Schweden oder Finnland orientieren, die aufgrund ihrer niedrigen Bevölkerungsdichte bereits heute Lösungen für unsere Probleme von morgen haben.

TK: In den kommenden Jahren werden immer mehr Gentherapeutika auf den Markt kommen, für die die Pharmaindustrie zum Teil extreme Preise aufruft. Welche Lösungen wären möglich, damit auch künftig Betroffene Zugang zu diesen Therapien haben, ohne dass die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) an ihre finanziellen Grenzen stößt?

Stamm-Fibich: Bei den derzeitigen Preisniveaus wird die GKV früher oder später an ihre Leistungsgrenze kommen. Die finanzielle Situation ist aktuell bereits desolat. Es gibt deshalb nur zwei Möglichkeiten: Entweder gehen die Preise für neue Therapien nach unten, oder die Therapien werden nicht mehr von der GKV erstattet. Grundsätzlich müssen wir wirklich darauf achten, dass nur das bezahlt wird, was auch nachgewiesenermaßen wirkt. 

Gerade bei Gentherapien stehen wir häufig vor dem Problem, dass die Datenlage bei der Zulassung sehr schlecht ist und keiner weiß, ob die Arzneimittel halten, was sie versprechen. Eine mögliche Lösung wäre zum Beispiel, dass man bereits zu einem ganz frühen Zeitpunkt im Rahmen von Registern Daten sammelt. Eine andere Lösung wäre, nur bei Behandlungserfolg zu bezahlen. Dabei muss aber sichergestellt werden, dass niemand von der Therapie ausgeschlossen wird.

TK: Was halten Sie in diesem Zusammenhang vom japanischen Modell, bei dem die pharmazeutischen Unternehmen, die die Herstellungs-, Vertriebs- und Vermarktungskosten transparent darstellen, anschließend einen Prämienaufschlag bekommen, der sich an Kriterien wie Innovationsgrad oder Absatzfähigkeit orientiert?

Stamm-Fibich: Das Modell hört sich in der Theorie gut an, allerdings sehe ich einige Probleme in der Umsetzung. Einerseits scheint das Modell nicht dazu beizutragen, dass die Marktverfügbarkeit von innovativen Arzneimitteln besonders gut gewährleistet ist. Im Vergleich mit Deutschland stehen den Japanern und Japanerinnen deutlich weniger innovative Arzneimittel zur Verfügung. Auch die Zeit bis zur Marktverfügbarkeit ist deutlich länger. Darüber hinaus sieht das System eine Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen vor. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das in Deutschland rechtlich sauber umgesetzt bekommen. Außerdem widerspricht die Regelung aus meiner Sicht dem Leitprinzip der evidenzbasierten Medizin. Ich denke es ergibt deutlich mehr Sinn, wenn wir Arzneimittel auf Basis ihrer Wirksamkeit vergüten und nicht rein auf Basis der ursprünglichen Kostenstruktur.