TK-Arzneimittelexperte fordert faire Preise für Innovationen
Interview aus Bayern
Arzneimittelexperte Tim Steimle spricht über die Kostensteigerungen bei Medikamenten, über den Pharmastandort Deutschland und über die Liefersicherheit von Arzneimitteln.
TK: Die Ausgaben für Arzneimittel steigen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seit Jahren stark an. Im Jahr 2023 hat die GKV knapp 51 Milliarden Euro für Arzneimittel ausgegeben - deutlich mehr als beispielsweise für ärztliche Behandlungen. Was sind die Gründe für die Steigerungen, welche Arzneimittel sind extrem kostenintensiv?
Tim Steimle: Insbesondere neue, patentgeschützte Arzneimittel sind die Kostentreiber. Die Ausgaben der GKV für diese Medikamente steigen enorm und machen etwa die Hälfte der Gesamtausgaben aus, aber nur etwas sechs Prozent des Gesamtverbrauchs. Die Preisspirale dreht sich hier sehr schnell nach oben.
Neue, patentgeschützte Arzneimittel sind die Kostentreiber.
Das sehen wir insbesondere im Bereich der Gentherapeutika. Für neue Gentherapeutika hat sich mittlerweile ein Preisniveau in Millionenhöhe etabliert. Das teuerste hatte einen Einführungspreis von über vier Millionen Euro. Dazu muss man wissen: In den ersten sechs Monaten können die Hersteller in Deutschland den Preis frei gestalten. Dabei kritisieren wir, dass die Preisgestaltung intransparent ist und sich nicht an tatsächlichen Forschungs- und Produktionskosten orientiert. Die extreme Entwicklung der Preise führt dazu, dass die Arzneimittel für die Versichertengemeinschaft auf Dauer nicht finanzierbar sind. Dabei ist natürlich ganz klar, dass wir neue, innovative Medikamente brauchen, und die Industrie diese auch gut bezahlt bekommen soll, aber es muss ein fairer Preis sein.
Langfristig müssen wir zu einem Modell der Preisbildung kommen, das sich an objektiven Kriterien orientiert.
TK: Wie könnte man aus Ihrer Sicht die Ausgabensteigerungen bei Arzneimitteln in den Griff bekommen?
Steimle: Kurzfristig sollte zum Beispiel die Umsatzsteuer auf Arzneimittel gesenkt werden. Für Grundnahrungsmittel und kulturelle Leistungen gilt der ermäßigte Umsatzsteuersatz - für Arzneimittel bisher aber nicht. Auch ein erhöhter Herstellerabschlag ist ein gutes Instrument, um die Arzneimittelausgaben zu stabilisieren. Das hat das Jahr 2023 gezeigt, in dem der Herstellerabschlag, den die Unternehmen auf bestimmte Medikamente zahlen, von sieben auf zwölf Prozent erhöht wurde. Langfristig müssen wir zu einem Modell der Preisbildung kommen, das sich an objektiven Kriterien wie den tatsächlichen Forschungs-, Entwicklungs- und Herstellungskosten orientiert.
TK: Stichwort Pharmastandort Deutschland: Würden Pharmaunternehmen nicht sehr sensibel auf Abschläge oder strengere Preisbildungsmodelle reagieren?
Eine gut ausgebaute digitale Infrastruktur würde beispielsweise den Pharmastandort Deutschland nachhaltig stärken.
Steimle: Wir wollen, dass Deutschland für die Pharmaindustrie ein attraktiver Standort bleibt. Es darf aber nicht sein, dass die Versichertengemeinschaft absurd hohe Preise für Arzneimittel zur Standortförderung bezahlt. Das ist nicht der Zweck von Beitragsgeldern. Politische Maßnahmen wie weniger Bürokratie, schnellere Genehmigungsverfahren oder eine gut ausgebaute digitale Infrastruktur würde den Pharmastandort Deutschland nachhaltig stärken.
TK: Immer wieder geraten die Rabattverträge, die die Krankenkassen mit Herstellern für sogenannte Generika (patentfreie Arzneimittel) schließen, in die Kritik. Häufig ist dann zu lesen, dass sie der Grund für Lieferengpässe sind. Was ist da dran?
Steimle: Diese Kritik ist aus unserer Sicht nicht gerechtfertigt. Im Gegenteil sind Rabattverträge ein geeignetes Instrument, um die Liefersicherheit zu erhöhen. Denn sie bieten grundsätzlich eine lange Vorlaufzeit, eine hohe Planbarkeit und eine Bevorratungspflicht von sechs Monaten sowie Sanktionsmaßnahmen bei Nicht-Lieferfähigkeit. Damit übertreffen sie den Zustand im vertragsfreien Markt erheblich und helfen damit Lieferunfähigkeiten zu vermeiden und die Versorgung unserer Versicherten zu sichern. Wir schreiben unsere Rabattverträge dort, wo das möglich ist, im Mehrpartnermodell aus, setzen also nicht nur auf einen Hersteller, und wir schließen lieferunfähige Firmen aus. Generell sind die Gründe für Lieferschwierigkeiten bei Arzneimitteln vielfältig und auch Teil eines globalen Phänomens. Trotzdem können wir etwas tun. Wir brauchen ein besseres Frühwarnsystem und robustere Lieferketten bei den Herstellern.