"Wir wollen maximal auf die ePA setzen"
Interview aus Thüringen
Universitätsprofessor Orlando Guntinas-Lichius leitet ein in Jena ansässiges Bündnis, das sich die Entwicklung einer ganzheitlichen, digitalisierten Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen zur Aufgabe gemacht hat. WeCaRe wird dafür vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Im Interview erklärt Guntinas-Lichius die Initiative.
Gute Pflege, besonders Altenpflege, auch in Zukunft sicherzustellen, ist eine der zentralen Herausforderungen der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Die TK ist überzeugt, dass dafür digitale Unterstützungsmöglichkeiten und Smart-Home-Lösungen noch mehr genutzt und weiterentwickelt werden müssen.
Ideen, wie eine ganzheitliche digitalisierte Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen in der Praxis aussehen kann, entwickelt und erprobt das in Jena ansässige Bündnis WeCaRe.
Testregionen sind die Landkreise Ilmkreis, Saalfeld-Rudolstadt, Weimarer Land und die kreisfreie Stadt Suhl. Das Bündnis wird dafür für die kommenden zweieinhalb Jahre vom WIR!-Förderprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unterstützt. Die TK beteiligt sich als Partner am Vorhaben von WeCaRe.
Orlando Guntinas-Lichius, der Leiter des Bündnisses, hat mit uns über WeCaRe gesprochen und erklärt, warum Pflege dabei eine wesentliche Rolle spielt.
TK: Prof. Guntinas-Lichius, können Sie uns zum Einstieg bitte nochmal die Idee hinter WeCaRe erklären?
Univ.-Prof. Dr. med. Orlando Guntinas-Lichius: Bei WeCaRe geht es um eine innovative, digitalisierte Gesundheitsversorgung für den strukturschwachen, ländlichen Raum. Dieser Fokus auf den ländlichen Raum ist wichtig, weil wir dort jetzt schon Versorgungsprobleme haben, sowohl im ärztlichen als auch im pflegerischen Bereich.
Die gesundheitliche Versorgung ganz besonders von älteren Menschen soll möglichst lange und gut in der eigenen Häuslichkeit oder wenigstens im eigenen Umfeld stattfinden können.
Im Projekt nutzen wir vorhandene Technologien und analysieren sehr praxisnah, wie wir damit die Versorgung verbessern können. Ziel ist es dann, die intelligenten Anwendungen, die sich bewährt haben, in die Regelversorgung zu bringen.
Im nächsten halben Jahr entwickeln wir zehn Basisprojekte, mit denen wir an den Start gehen.
TK: Was sind besondere Aspekte der Initiative, die ggf. auch die Jury des WIR!-Förderprogramms überzeugt und Ihnen somit die finanzielle Förderung beschert haben?
Guntinas-Lichius: Zum einen haben wir von Anfang an einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt, der den gesamten Gesundheitskreislauf im Blick hat. Dazu gehören Diagnostik, Therapie, Nachsorge und Langzeitnachsorge, Pflege und Notfallversorgung. Es geht uns also nicht um ein einzelnes Modellprojekt, das am Ende nur einer Nische hilft.
Die technologischen Elemente, die wir entwickeln bzw. nutzbar machen, sollen in möglichst vielen Bereichen einsetzbar sein. Wenn wir zum Beispiel eine digitale Unterstützung für Patientinnen und Patienten im häuslichen Umfeld bauen, dann sollen im Idealfall auch Pflegekräfte oder Ärzte davon profitieren. Dieselben Informationen können wir unterschiedliche Beteiligte am Gesundheitsprozess so aufbereitet werden, dass sie den größtmöglichen Nutzen haben.
Als zweiten Punkt ist es explizit unser Anspruch, technologische, schon vorhandene Stärken der Region zu nutzen. Das geht weit über das hinaus, was im Moment an vielen Stellen unter Telemedizin verstanden wird.
Thüringen ist bei optischen und sensorischen Technologien bekanntlich sehr stark. Deswegen haben wir im Konzept den Begriff der intelligenten sensorischen Telemedizin geprägt. Über sensorische Systeme wollen wir viel mehr als jetzt Gesundheitsdaten automatisiert erfassen. Die kommen zur jetzt schon bekannten Telemedizin hinzu und werden dadurch effektiv.
Der dritte entscheidende Faktor ist, dass wir Konzepte haben, wie wir Patienten und Angehörige gezielt mit ins Boot holen, also sehr praxisorientiert arbeiten. Das war auch eine explizite Forderung des BMBF.
Wir haben in den Regionen, in denen wir jetzt arbeiten wollen, bereits Gemeinden, Pflegeeinrichtungen, Organisationen wie die AWO oder das Rote Kreuz, Firmen, die Software zum Pflegeplatz Management anbieten und unterstützende Strukturen wie die Landengel-Initiative mit eingebunden.
TK: Heißt der ganzheitliche Ansatz, dass Pflege überall mitgedacht wird?
Guntinas-Lichius: Genau. Wenn man die Gesundheitsversorgung verbessern will, vor allem mittels technologischer Unterstützung, lässt sich das gar nicht von anderem trennen.
Wir stellen eher die Frage nach den gesundheitlichen Herausforderungen der Menschen in der Region. Ein zentraler Punkt sind chronische Erkrankungen, besonders die, die mit zunehmendem Alter häufiger werden. Chronische Erkrankungen bedeutet Langzeitbetreuung und das hat immer sehr viel mit Pflege zu tun. Bei neurodegenerativen Erkrankungen, wie Alzheimer und Parkinson, oder bei Krebserkrankungen zum Beispiel wird die Betreuung zu sehr großen Teilen von nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen übernommen, ganz besonders von Pflegefachkräften.
Idealerweise kann eine neue Technologie aus Daten Informationen so aufbereiten, dass die verschiedenen Berufsgruppen das bekommen, was sie brauchen bzw. die ihren Bedarfen entsprechen.
TK: Können Sie ein Beispiel nennen?
Guntinas-Lichius: Bei Patientinnen und Patienten mit gewissen Lebererkrankungen ist es so, dass Lebensgefahr besteht, wenn die Erkrankung einen gewissen Grad erreicht hat. Das kann sehr schnell gehen, kann aber auch sehr lange nicht vorkommen.
Im Moment ist es so, dass diese Menschen regelmäßig zur Ärztin oder zum Arzt müssen, sie oder er untersucht sie und trifft dann die Entscheidung, ob eine Gefahr besteht. Das ist für die Patienten sehr aufwendig, besonders wenn sie in ländlichen Regionen weitere Wege haben. Dazu ist es ineffizient, weil bei vielen nichts Auffälliges festgestellt wird. Das ist ein wunderbares Beispiel für Monitoring, das sinnvoll nach Hause verlagert werden kann.
Wir wissen aus der Forschung, dass schlechter werdende Leberwerte sich bei dieser Erkrankung sofort auf die kognitive Leistung auswirken. Das kann man gut messen. Wenn unser System nun eine Veränderung feststellt, gibt es verschiedene Eskalationsstufen. Wenn es sich um eine kleine Veränderung handelt, kann es reichen, dass die Patientin oder der Patient aktiv wird. In einer weiteren Stufe kann die betreuende Pflegekraft auf die Veränderung hingewiesen werden und den Patienten versorgen. Die nächsten Stufen sind eine Information an den betreuenden Hausarzt oder die Fachärztin. Im schlimmsten Fall kann es vorkommen, dass die Person in ein Krankenhaus gebracht werden muss. Diese Eskalationsstufen machen eine viel zielgenauere Intervention möglich, was allen Beteiligten zugutekommt.
TK: Gerade die Pflege lebt auch von Zwischenmenschlichkeit. Wie sind die Reaktionen, wenn Sie mit Pflegeeinrichtungen oder auch Pflegebedürftigen und deren Angehörigen über neue Technologien reden?
Guntinas-Lichius: Ich habe sie überraschend positiv erlebt. Den Menschen in Pflegeberufen ist klar, dass etwas passieren muss, weil die Situation so nicht mehr lange schaffbar ist. Sie sehen auch, dass vielleicht mehr Zeit für andere Dinge frei wird, wenn Routineaufgaben und Datenerfassungen, wie Blutdruckmessen, automatisiert und digitalisiert geschehen.
Verständlicherweise gibt es auch eine Menge Bedenken. Gerade die Frage der sozialen Kontakte, wenn Daten automatisiert erfasst werden, für die vielleicht aktuell noch eine Pflegekraft kommt. Dieser soziale Austausch ist immens wichtig.
Weil wir Lösungen für die Menschen schaffen wollen, die auf Akzeptanz stoßen, haben wir eigene Projekte eingeplant, die sich mit Hindernissen und Bedenken befassen. In diesen wichtigen Teil des Projektes fließen 20 Prozent oder sogar mehr des Geldes, das wir mit der Förderung bekommen. Ohne Akzeptanz brauchen wir keine neuen Lösungen. Das müssen wir von Anfang an mitdenken.
TK: Welche weiteren Faktoren würden das Gelingen Ihrer Projekte begünstigen?
Guntinas-Lichius: Wenn wir die Lösungen, die wir entwickeln werden, bis zu Ende denken, sind wir maximal intersektoral. Das heißt, wir brauchen Unterstützung von der Politik. Es geht nicht, dass wir mit dem elektronischen Datenfluss an der Sektorgrenze enden, ihn ausdrucken und über die Sektorgrenze tragen. Dafür brauchen wir die entsprechenden gesetzlichen Möglichkeiten. Wenn man in den Koalitionsvertrag schaut, sieht es so aus, als seien wir da auf einem guten Weg.
Zudem brauchen wir Krankenhäuser und niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, die bereit sind, über die klassischen Sektorgrenzen hinaus zu denken. Da haben wir in der Vergangenheit überwiegend gute Erfahrungen gemacht. Die meisten Akteure haben verstanden, dass wir die grenzübergreifenden Netzwerke brauchen, wenn wir gute Gesundheitsversorgung aufrechterhalten wollen.
Wenn wir über Datentransport sprechen, sollten wir die ePA zudem intelligent nutzen können. Wir haben jetzt endlich einen Ort für digitale Gesundheitsdaten mit standardisierten Lösungen, auf den sich alle Beteiligten verständigt haben. Wir wollen maximal auf die ePA setzen, damit die Daten, die wir zu Hause gewinnen oder die von Arzt ermittelt werden usw. von A nach B getragen werden. An diesem Punkt setzen wir auch auf die Unterstützung der TK.
Zur Person
Univ.-Prof. Dr. med. Orlando Guntinas-Lichius ist HNO-Arzt, Universitätsprofessor, und seit 2006 Direktor der HNO-Klinik am Universitätsklinikum Jena. Klinische Schwerpunkte sind die Implementierung von innovativen digitalen diagnostischen Methoden sowie die Behandlung von Tumorpatienten, Speicheldrüsenerkrankungen und die rekonstruktive Chirurgie des Gesichtsnervs. Wissenschaftliche Schwerpunkte sind die Entwicklung von neuen biophotonischen Verfahren, klinische Studien und Versorgungsforschung. Er leitet das WeCaRe Bündnis.