TK: Frau Dr. Fuchs, mit welchem Ziel haben Sie den Verein wir pflegen - Interessenvertretung und Selbsthilfe pflegender Angehöriger in Thüringen e. V. im März 2020 gegründet?

Dr. Sigrun Fuchs: In Thüringen leben über 166.000 Pflegebedürftige. Über achtzig Prozent der Pflege findet in der Häuslichkeit und nicht im Pflegeheim statt. Etwa 270.000 Menschen in Thüringen pflegen ihre Angehörigen und leisten damit jeden Tag Großes. 

Das wird in der Öffentlichkeit immer noch viel zu wenig gesehen und gewürdigt. Pflegende Angehörige sind in der öffentlichen Wahrnehmung viel weniger präsent als zum Beispiel die Herausforderungen der stationären Pflege.

Um die Rahmenbedingungen in Thüringen zu ändern, haben wir den Verein wir pflegen - Interessenvertretung und Selbsthilfe pflegender Angehöriger in Thüringen e. V. gegründet. Wir brauchen eine intensive Diskussion über häusliche Pflege durch Angehörige und fehlende Unterstützungs- und Entlastungsangebote.

Pflegende Angehörige sind in der öffentlichen Wahrnehmung viel weniger präsent als zum Beispiel die Herausforderungen der stationären Pflege.
Dr. Sigrun Fuchs

Basierend auf unseren Erfahrungen als pflegende Angehörige wollen wir aktiv werden und eine Stelle sein, an die sich Angehörige in Thüringen mit ihren Problemen wenden können, diese bündeln und Lösungen zuführen.

Da wir ein Selbsthilfeverein sind, können wir dafür gut mit Krankenkassen zusammenarbeiten, wie wir das ja zum Beispiel auch mit der TK tun. Gleichzeitig wollen wir eine starke Stimme der pflegenden Angehörigen gegenüber der Politik sein. Das funktioniert sehr gut.

Dr. Sigrun Fuchs

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Mitglied des Vorstandes von "wir pflegen in Thüringen e. V." 

TK: Wie zum Beispiel?

Fuchs: Für und mit pflegenden Angehörigen haben wir im Juli 2022 zum zweiten Mal die Thüringer Woche der pflegenden Angehörigen (twpa) mit über 70 Veranstaltungen an vielen Orten Thüringens mit dem Ziel organisiert, dass Angehörige Informationen erhalten und sich austauschen können, Angebote vorgestellt werden und lokale Akteure gemeinsam wirksam werden.

Ich habe den Eindruck, dass wir so sehr viele Menschen in Thüringen erreichen. Deswegen wird es auch 2023 wieder eine solche Woche in Thüringen geben.

TK: Was motiviert Sie, immer wieder so viel Energie in Ihre Arbeit zu stecken?

Fuchs: Als pflegende Angehörige und durch viele Gespräche mit anderen Angehörigen weiß ich um die Vielzahl der Probleme. Wer unterstützt einen, wenn plötzlich Pflege eines Angehörigen nötig ist? Wie kämpft man sich durch die Bürokratie? Was macht man, wenn man keinen Pflegedienst findet oder dieser kündigt, weil er zu wenig Personal hat?

Der zeitliche Aufwand und die aus der Verantwortlichkeit für einen anderen Menschen resultierende Belastung sind sehr hoch. In vielen Familien gelingt Pflege zuhause gut, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Deshalb wird diese Zeit rückblickend oft als wichtig im Leben und bereichernd empfunden.

Gleichzeitig wird Wertschätzung für die gebrachte Leistung vermisst, sind oft eigene gesundheitliche Probleme entstanden und viele Menschen sind erschöpft, weil sie über ihre Grenzen belastet werden.

Corona hat vieles verschärft, aber auch danach ist die Situation nicht wesentlich besser geworden. Das erzeugt auch ein Gefühl des Allein-gelassen-werden, dabei wird eine für die Gesellschaft wichtige Aufgabe übernommen.

Alle Menschen, die im Verein mitarbeiten und natürlich auch ich, möchten das ändern. Wir möchten, dass pflegende Angehörige gesehen werden und bestmögliche Unterstützung erfahren.

Für mich ist es wichtig, dass pflegende Angehörige nicht mehr gewohnheitsmäßig vergessen werden.
Dr. Sigrun Fuchs

Angesichts der "großen Baustellen" beim Thema Pflege ist es nicht verwunderlich, dass eine Lösung aller Probleme nicht in kurzer Frist erreicht wird. Das wäre zwar phantastisch, aber auch unrealistisch. Für mich ist es wichtig, dass wir uns in Thüringen auf den Weg machen, gemeinsam über die bestehenden Probleme und Schwierigkeiten reden, nach konkreten Lösungen suchen und pflegende Angehörige nicht mehr gewohnheitsmäßig vergessen werden. Diesen Prozess stoßen wir immer wieder an und immer mehr Menschen unterstützen dies.

Ich investiere viel Freizeit und auch Urlaubstage in die ehrenamtliche Tätigkeit, aber pflegende Angehörige leisten ihre Sorgearbeit auch häufig an sieben Tagen in der Woche und dies über Monate und Jahre.

TK: Wenn Sie gegenüber Öffentlichkeit und Politik drei Wünsche frei hätten, welche wären das? 

Fuchs: Erstens eine breite gesellschaftliche Diskussion zur Frage, wie wir in Thüringen die Versorgung und Betreuung der wachsenden Zahl Pflegebedürftiger, die überwiegend durch Angehörige gepflegt wird, sicherstellen wollen und was dazu nötig ist.

Außerdem wünsche ich mir mehr wohnortnahe Beratungs-, Unterstützungs- und Entlastungsangebote für pflegende Angehörige.

Drittens möchte ich, dass pflegende Angehörige und ihre Organisationen viel mehr in Diskussions- und Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Es soll mit uns entschieden werden, nicht über uns. 

Die Reihenfolge der Wünsche sagt übrigens nichts über die Relevanz aus. Das sind alles wichtige Punkte und leider war ja nur nach drei Wünschen gefragt.

Zur Person

Dr. Sigrun Fuchs ist Mitglied des Vorstandes von wir pflegen - Interessenvertretung und Selbsthilfe pflegender Angehöriger in Thüringen e. V., pflegende Angehörige, berufstätig und Mutter von drei Kindern, außerdem ist sie Mitglied des Bundesvorstandes von wir pflegen, Mitglied der Fachkommission "Engagement und Partizipation" der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) und stellv. Beiratsvorsitzende des WeCare Projekts  (BMBF).

Zudem ist sie Ansprechpartnerin für Menschen, die die Arbeit von wir pflegen unterstützen möchten oder auf der Suche nach einer sinnstiftenden ehrenamtlichen Tätigkeit sind. Diese Menschen sind herzlich eingeladen, ihr eine Nachricht an sfuchs@th.wir-pflegen.net zu schreiben.