"In der ambulanten Versorgung werden wir weiter neue Wege gehen müssen"
Interview aus Schleswig-Holstein
Eine der größten Herausforderungen für die neu gewählte Landesregierung ist es, eine gute Versorgung von Land und Inseln sicherzustellen. In dem Zuge haben wir Dr. Monika Schliffke, Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein, nach ihren Einschätzungen zu den Herausforderungen und Chancen hierbei gefragt.
TK: Sehr geehrte Frau Dr. Schliffke, Schleswig-Holstein hat eine neue Landesregierung. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Herausforderungen, um die Versorgung der Menschen im Land und auf den Inseln in den nächsten fünf Jahren sicherzustellen?
Dr. Monika Schliffke: Die Sicherstellung einer guten Versorgung, auch abseits der Städte, bleibt die zentrale Herausforderung. Das wird in den nächsten Jahren nicht einfacher, denn wir bleiben konfrontiert mit einem Fachkräftemangel, der sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch und sehr spürbar die Angehörigen weiterer Gesundheitsberufe betrifft. Das erleben unsere Kolleginnen und Kollegen aktuell in ihren Praxen. Zudem werden die Zeiten angesichts der aktuellen Krisen wirtschaftlich nicht einfacher, was auch in der Gesundheitsversorgung und ihrer Finanzierung Spuren hinterlassen wird.
In der ambulanten Versorgung werden wir weiterhin neue Wege gehen müssen, um die Tätigkeit in den Praxen für jüngere Ärztinnen und Ärzte und Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die heute andere Vorstellungen vom Berufsleben haben, attraktiv zu machen. Wie wichtig das ist, zeigt, dass die Nachbesetzung von Hausarztsitzen selbst im Umland von Hamburg mitunter großer Anstrengungen bedarf.
Eine der größten gesundheitspolitischen Baustellen für die neue Landesregierung ist sicher, die Krankenhausstruktur zukunftsfähig zu gestalten, zumal das Land hier im Gegensatz zur ambulanten Versorgung die direkte Verantwortung trägt.
TK: Die Ersatzkassen haben unlängst ihr Modell zu regionalen Gesundheitszentren vorgestellt. Die Idee dazu findet sich auch im Koalitionsvertrag von CDU und Bündnis 90/Die Grünen wieder. Sehen Sie Chancen in diesem Ansatz, um die sektorenübergreifende Versorgung zu verbessern?
Dr. Schliffke: Es bleibt eine Aufgabe, die schon vielfach angepackt wird, moderne Strukturen in der ambulanten Versorgung zu schaffen, um Nachwuchsmediziner und -medizinerinnen für die Praxen zu gewinnen. Für uns ist wichtig, dass die im Koalitionsvertrag angekündigte flächendeckende Förderung von Niederlassungen und Kooperationen von Gesundheitsberufen auch die vielen Ärztinnen und Ärzte einschließt, die sich auf den Weg gemacht haben, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen und nicht-ärztlichem Personal innovative Praxismodelle zu schaffen.
Wichtig sind ergänzende Strukturen von Zweigpraxen über Hausbesuche bis hin zu Fahrdiensten und Videosprechstunden, um die Versorgung für jene zu sichern, die nicht mehr mobil sind.
Einige dieser Praxen kommen der Idee der "regionalen Gesundheitszentren" schon recht nahe. Das vdek-Modell enthält viele richtige Elemente und Antworten, die eine gute Basis für weitere Diskussionen sind. Wir müssen in den ländlichen Räumen aber auch im Auge behalten, dass solche Zentren, wenn sie eine größere Zahl von Haus- und Fachärzten unter einem Dach vereinen, auch eine Zentralisierung der Angebote in größeren Orten bedeutet. Wichtig sind deshalb ergänzende Strukturen von Zweigpraxen über Hausbesuche durch besonders qualifizierte Assistenzkräfte bis zu Fahrdiensten und Videosprechstunden, um die Versorgung für jene zu sichern, die etwa altersbedingt nicht mehr eigenständig mobil sind.
TK: Auch die Digitalisierung bietet großes Potenzial, die medizinische Versorgung weiter zu verbessern. Welche Möglichkeiten und Notwendigkeiten sehen Sie für Schleswig-Holstein?
Dr. Schliffke: Vieles funktioniert durchaus schon, schauen Sie sich die Entwicklung bei den Videosprechstunden an, die sich inzwischen fest etabliert haben. Auch andere telemedizinische Möglichkeiten halten zunehmend in den Versorgungsalltag Einzug. Wir begrüßen das als KVSH ausdrücklich. Ärztliche Versorgung wird dadurch in Fällen, wo es medizinisch möglich ist, weniger abhängig vom Aufenthaltsort der erkrankten Person und dem ärztlichen Personal, was für die Versorgung ländlicher Regionen die Möglichkeit eröffnet, ärztliche Versorgung zu den Patientinnen und Patienten zu bringen, ohne dass dies mit langen Wegen verbunden ist.
Wir werden allerdings diese Potenziale nicht ausschöpfen können, wenn die Digitalisierung in den Arztpraxen durch immer neue Vorgaben und Fristen der Politik und die zwangsweise Einführung von nicht ausgereiften Anwendungen als bürokratisches Monster erlebt wird. Ob Konnektoren, E-Rezept oder andere Aspekte der Digitalisierung und TI-Infrastruktur: Wir fordern, dass künftig jede neue digitale Anwendung erst dann in die Praxen kommt, wenn sie zuverlässig funktioniert und eine Entlastung und nicht eine Belastung im Praxisalltag und für die Versorgung darstellt.
TK: Welchen Stellenwert kann die Fernbehandlung bei der Lösung struktureller Probleme einnehmen?
Dr. Schliffke: Schleswig-Holstein war Vorreiter bei der Liberalisierung des Fernbehandlungsverbotes. Das war ein wichtiger und richtiger Schritt, um neue Versorgungsformen zu ermöglichen. Ich habe bereits den Erfolg der Videosprechstunden genannt, die auch von den Patientinnen und Patienten sehr gut angenommen werden. Nicht zu unterschätzen in ihrer Bedeutung sind zudem Modelle, in denen zum Beispiel hausärztliche Praxen eine fachärztliche Expertise aus der Ferne hinzuziehen können und so der erkrankten Person nicht nur Wege ersparen, sondern insbesondere in akuten Fällen schneller eine umfassende Diagnose ermöglichen.
Allerdings sollte aus ärztlicher Sicht in der Diskussion darauf bestanden werden, dass es eine medizinische Bewertung ist, ob eine Fernbehandlung im konkreten Fall sinnvoll ist. Die neuen Möglichkeiten dürfen nicht als Ausrede dienen, Versorgungsangebote infrage zu stellen, die in der Fläche erforderlich sind und bleiben, denn es gibt in der Medizin eben auch viele Fälle, in denen der persönliche Kontakt nicht zu ersetzen ist.
TK: Eine abschließende Frage an Sie: Stichwort elektronische Patientenakte und eRezept - Fluch oder Segen?
Dr. Schliffke: Zurzeit leider eher Fluch, weil wir in Deutschland derzeit offensichtlich im Gegensatz zu vielen Nachbarländern nicht in der Lage sind, solche sinnvollen digitalen Anwendungen, die das Potenzial haben, die Versorgung für alle Beteiligten spürbar zu verbessern, zum Laufen zu bringen. Aktuell sehen wir beim eRezept, wie es immer neue Hürden gibt, die verhindern, dass die Ärztinnen und Ärzte endlich loslegen können und wir einen erlebbaren Mehrwert für Praxen sowie Patientinnen und Patienten haben.
Wir brauchen digitale Übertragungswege, die an den Bedürfnissen und Alltagserfahrungen der Nutzerinnen und Nutzer orientiert sind.
Unser Ziel ist es, dass das eRezept nicht Fluch bleibt, sondern Segen wird. Dafür wird es aber notwendig sein, dass Patientinnen und Patienten ihre elektronischen Rezepte nicht nur mit komplizierten Apps und Gesundheitskarten der neusten Generation, die noch kaum ein Versicherter hat, einlösen können. Wir brauchen digitale Übertragungswege, die an den Bedürfnissen und Alltagserfahrungen der Nutzerinnen und Nutzer orientiert sind. Wir benötigen also mehr Pragmatismus und müssen trotz aller Datenschutzerfordernisse eine Umsetzung ermöglichen, die einfach und verständlich ist, für Patientinnen und Patienten ebenso wie für die Praxen. Ich hoffe sehr, dass wir zeitnah zu solchen Lösungen kommen werden.