Warum wir geschlechtersensible Medizin brauchen
Medizin ist ganz schön ungerecht, denn bis heute betrachtet sie den Menschen häufig nicht als Individuum. Antworten darauf, wie die biologischen und soziokulturellen Unterschiede in Bezug auf Gesundheit und Krankheit in Zukunft berücksichtigt werden sollten und wie wir optimal für die Gesundheit vorsorgen, gibt es im Interview.
Fehlinterpretation von Symptomen, unentdeckte Krankheiten und falsch dosierte Medikamente: Frauen* sind in der Medizin (noch) klar im Nachteil. Woran das liegt, wie wir das ändern können und warum alle Menschen von geschlechtersensibler Medizin profitieren werden: Das erklärt Dr. med. Ute Seeland, Fachärztin und Dozentin für Innere Medizin und geschlechtersensible Medizin.
Was genau versteht man unter geschlechtersensibler Medizin?
Die geschlechtersensible Medizin beschäftigt sich mit der Interaktion von den biologischen mit den soziokulturellen Geschlechterunterschieden bei der Erhaltung von Gesundheit und Entstehung von Krankheit. Im Englischen ist das durch die Begriffe "Sex" und "Gender" etwas leichter zu differenzieren. Es meint, dass nicht nur das biologische Geschlecht eine Rolle spielt, sondern auch Faktoren wie Lebensumstände, Herkunft oder sexuelle Orientierung.
Der Fokus in diesem Feld liegt aktuell vor allem auf weiblich gelesenen und biologisch weiblichen Personen, oder?
Richtig, das liegt vor allem daran, dass es gerade in diesem Bereich Aufholbedarf gibt. Blickt man auf die Geschichte der Medizin zurück, dann waren eine lange Zeit nur Männer zum Medizinstudium zugelassen. Damit war der Blickwinkel sehr einseitig, es wurden vorwiegend männliche Körper und Lebenswelten beim Beurteilen von Krankheiten untersucht. Das hat sich auf die Wissenschaft ausgewirkt: In den Lehren ist man von einem einheitlichen Menschentyp ausgegangen. Dadurch wurden natürlich diverse biologische Aspekte, außer denen, die sich direkt auf die äußerlich sichtbaren Sexualorgane bezogen, aber auch soziokulturellen Faktoren außer Acht gelassen. Wie unterschiedlich Erkrankungen bei Männern, Frauen und nicht binären Personen verlaufen, welche Symptome sie zeigen, wie sie unterschiedlich auf Therapien ansprechen und welche Bedürfnisse daraus resultieren, alle diese Aspekte waren bis vor etwa 20 Jahren noch kein Thema in der Forschung.
Es geht also um mehr als die Unterscheidung zwischen Mann und Frau?
Auf jeden Fall, der Mensch ist ein hochkomplexes Wesen mit sehr individuellen Lebenshintergründen. Es ist zu kurz gedacht, hier nur in die biologischen Geschlechter Mann und Frau einzuteilen. Die geschlechtersensible Medizin bezieht alle Geschlechter mit ein und untersucht den Menschen in seiner ganzen Diversität.
Wie zeigt sich dieser Entwicklungsrückstand in der Praxis?
Es gibt zig Beispiele aus der Versorgungsforschung, zum Beispiel, dass Frauen bei bestimmten Medikamenten mehr Nebenwirkungen zeigen. Das liegt häufig an der Dosierungsvorgabe, die sich am männlichen Geschlecht orientiert, weil das Medikament eben nur an männlichen Versuchstieren entwickelt und an Männern getestet wurde.
Können Sie hier noch weitere Beispiele nennen?
Ein Klassiker ist der Herzinfarkt. Wir haben direkt dieses Bild im Kopf, wie ein Mann sich an die linke Brust greift und über einen ausstrahlenden Schmerz in den Arm klagt. Bei den Frauen sieht es meist ganz anders aus. Typische Symptome sind Müdigkeit, Schmerzen im Kiefergelenk und zwischen den Schulterblättern sowie Übelkeit und Luftnot. Da diese Anzeichen aber häufig noch unbekannt sind, erfolgen Fehldiagnosen oder Betroffene suchen erst gar nicht einen ärztlichen Rat beziehungsweise werden nicht zu einer Kardiologin oder einem Kardiologen geschickt.
Ein anderes Beispiel ist die Wirbelsäulenerkrankung Morbus Bechterew (Spondylitis ankylosans). In Lehrbüchern ist dazu meistens ein Mann mit rundem Rücken abgebildet. Dieses Stadium der Krankheit tritt allerdings nur bei Männern recht früh auf. Frauen laufen länger gerade, haben aber unheimliche Rückenschmerzen. Dadurch wird Morbus Bechterew bei ihnen aber häufig erst sehr spät diagnostiziert, weil es bei ihnen eben anders aussieht und Rückenschmerzen vielen anderen Ursachen zugeordnet werden können.
Gibt es auch Krankheiten, bei denen Männer benachteiligt sind?
Selbstverständlich. Osteoporose etwa gilt als typische Frauenkrankheit, dabei kommt sie auch bei Männern vor, wird bei ihnen aber häufig erst viel später erkannt. Auch bei Depressionen können die Symptome sehr unterschiedlich sein: Während Frauen sich meist zurückziehen, werden Männer schneller aggressiv oder verfallen in eine Sucht. Hinzu kommen gesellschaftliche und soziokulturelle Faktoren, die - gerade bei mentalen Krankheiten - dazu führen, dass sich betroffene Männer erst spät Hilfe holen.
Wie kann man dieses Problem ganz konkret angehen?
Das beginnt schon mit der Anamnese . Hier sollten Ärztinnen und Ärzte sich im besten Fall etwas mehr Zeit nehmen für das Erstgespräch und genau hinschauen, wer vor ihnen sitzt - und dabei über das biologische Geschlecht hinaus denken. Wie ist der Hormonstatus, war eine Frau schon einmal schwanger, ist der Mann über oder unter 40, welche epigenetischen Veränderungen könnten eine Rolle spielen, wie ist der religiöse Hintergrund, wie die Familiengeschichte und so weiter. All diese individuellen Faktoren und Unterschiede zwischen den Menschen sind aus geschlechtersensibler Sicht wichtig, um eine gerechte medizinische Behandlung zu garantieren. Natürlich dauert das anfangs länger, aber am Ende gewinnen die Patientinnen und Patienten Lebensqualität, können besser versorgt werden und müssen in Zukunft seltener in die Praxis kommen.
Keine Vorsorge mehr vergessen
Wann war ich das letzte Mal bei meiner Hausärztin und wie oft muss ich noch mal zur Gynäkologin? In einem Alltag voller Termine verlieren wir schnell den Überblick. Mit dem TK-Erinnerungsservice werden wir aber keine Vorsorgeuntersuchung mehr vergessen.
Worauf können Patientinnen und Patienten bei Vorsorgeuntersuchungen selbst achten?
Zunächst muss jede und jeder verstehen, dass man nicht alles mit sich geschehen lassen muss. Wenn Sie zu einer Untersuchung gehen, trauen Sie sich, Fragen zu stellen. Zum Beispiel, ob ein bestimmtes Medikament auch an Frauen getestet worden ist und ob es anders dosiert werden sollte - gerade, wenn Sie es schon über einen längeren Zeitraum nehmen und Nebenwirkungen spüren. Darüber hinaus sollten wir Veränderungen an unserem Körper ernst nehmen und Symptome abklären lassen. Da ist es natürlich wichtig, dass Fachärztinnen und Fachärzte ein Bewusstsein oder zumindest eine Offenheit gegenüber geschlechtersensibler Medizin haben und nicht zu festgefahren auf einen "universellen Einheitsmenschen" sind, sondern Therapien individuell anpassen.
Es braucht also ein Zusammenspiel aus persönlicher Verantwortung und Weiterentwicklung der Medizin?
Genau, es spielen viele Faktoren mit rein. Da die Forschungen eben noch sehr neu sind, lohnt es sich, bewusst zu handeln, proaktiv nachzufragen und Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen. Dazu gehören auch klassische Maßnahmen wie nicht rauchen, sich gesund ernähren, ausreichend bewegen. Gleichzeitig gibt es viele Dinge, die wir nicht beeinflussen können wie die Genetik, unsere Herkunft, Herkunft und Umweltbedingungen. Alle diese Einflüsse prägen unser Verhalten und können auch das ungeborene Leben Schwangerer beeinflussen. Um die Qualität der medizinischen Versorgung für alle Geschlechter zu verbessern, setzt die geschlechtersensible Medizin hier an und erforscht die biologischen und soziokulturellen Geschlechterunterschiede bei der Erhaltung von Gesundheit und der Entstehung von Krankheiten. Diese Relevanz hat inzwischen auch die Politik erkannt und die geschlechtersensible Medizin in den neuen Koalitionsvertrag aufgenommen. Das umfasst nicht nur eine individuelle Versorgung, Abbau von Diskriminierungen und besseren medizinischen Zugang für alle, sondern auch, dass das Thema im Medizinstudium gelehrt wird.
* Mit dem Begriff Frauen sind in diesem Text sowohl weibliche gelesene Personen als auch Personen mit biologisch weiblichen Geschlechtsmerkmalen gemeint.