ME/CFS: mehr als nur Erschöpfung
Nach einer anstrengenden Arbeitswoche, einer ausgelassenen Party oder auch einem schweren Infekt ist es normal, sich erschöpft zu fühlen. Doch was, wenn die körperliche und geistige Erschöpfung ohne ersichtlichen Grund auftritt und sich der innere Akku weder durch Schlaf noch durch Erholung wieder aufladen lässt?
In Deutschland leiden schätzungsweise 250.000 Menschen unter Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom, auch ME/CFS genannt. Die Dunkelziffer wird jedoch höher geschätzt. Diese komplexe neurologische Erkrankung tritt oft nach einem Virusinfekt wie etwa einer Grippe auf. Frauen erkranken häufiger als Männer.
Wie äußert sich ME/CFS?
Bei ME/CFS ist der Körper nicht mehr in der Lage, ausreichend Energie für physische oder kognitive Aktivitäten bereitzustellen. Vielen Betroffenen fällt es dann zunehmend schwer, ihre alltäglichen Aufgaben zu erfüllen, sie fühlen sich dauerhaft erschöpft. Selbst einfache Tätigkeiten, zum Beispiel zur Bäckerei zu gehen, werden oft zu unüberwindbaren Hindernissen.
Zudem verschlechtern sich die Beschwerden schon nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung deutlich. Fachleute nennen dieses Leitsymptom Post-Exertional Malaise (PEM). Durch PEM können auch neue Symptome hinzukommen. PEM zeigt sich oft erst einige Stunden nach der Situation, die zur Überlastung führte, und kann mehrere Tage oder Wochen anhalten beziehungsweise den Gesundheitszustand langfristig verändern. Ist die Erkrankung stark ausgeprägt, können bereits alltägliche Aktivitäten wie Körperpflege oder minimale äußere Reize - etwa Licht oder Geräusche - PEM auslösen.
Weitere typische Beschwerden sind unter anderem:
- Erhöhte Infektanfälligkeit mit grippeähnlichen Symptomen wie Halsschmerzen, Fieber, geschwollene Lymphknoten und extreme Abgeschlagenheit sowie anhaltendes Krankheitsgefühl
- Herz-Kreislauf-Beschwerden wie Herzrasen, Schwindel und Blutdruckschwankungen
- Sprach-, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen
- Muskel-, Gelenk- und Gliederschmerzen
- Schwere Schlafstörungen, Schlaf bessert die Symptome nicht
Die Symptome können im Verlauf der Erkrankung variieren, genau wie der Schweregrad der Erkrankung sich im Lauf der Zeit verändern kann. Weitere Informationen zu den Schweregraden stellt die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e. V. bereit.
Welche Ursachen gibt es?
Auch wenn ME/CFS bereits 1969 als neurologische Erkrankung klassifiziert werden konnte, sind ihre genauen Ursachen bis heute nicht eindeutig geklärt. Häufig tritt ME/CFS nach einer Infektion, etwa mit dem Epstein-Barr-Virus (Pfeiffersches Drüsenfieber), mit Influenza -Viren oder auch Corona auf. Expertinnen und Experten gehen zudem davon aus, dass auch Immundefekte, Störungen des Energiestoffwechsels sowie Operationen und Traumata zu den Auslösern zählen. Auch genetische Faktoren könnten eine Rolle spielen.
Gut zu wissen
Sehr häufig ist in älterer Literatur noch vom chronischen Erschöpfungssyndrom beziehungsweise chronischen Müdigkeitssyndrom die Rede. Da sich die körperliche und mentale Schwäche bei ME/CFS jedoch nicht durch ausreichend Erholung oder regelmäßige körperliche Betätigung bessert, lehnen Fachleute diese Begriffe für die Beschreibung von ME/CFS heute ab. Zudem könnten diese Bezeichnungen laut Forschenden die Schwere der Erkrankung verharmlosen.
Diagnose und Therapie
Im Gespräch erfragt Ihre Ärztin oder Ihr Arzt, unter welchen Symptomen Sie leiden. Anschließend erfolgen eine körperliche Untersuchung sowie eventuelle Labortests. Dabei werden zunächst verschiedene Ursachen für Ihre chronische Schwäche ausgeschlossen, beispielsweise eine Eisenmangelanämie , Tumorerkrankungen oder chronisch-entzündliche Erkrankungen . Diabetes mellitus , Leber - oder psychische Erkrankungen wie Depressionen können ebenfalls starke Erschöpfung und Müdigkeit auslösen.
Leiden Sie unter nächtlichen Atemaussetzern (Schlafapnoe), kann auch dies die Ursache für eine mangelnde Erholung sein. Da bestimmte Medikamente ebenfalls sehr müde machen können, wird eventuell Ihr Medikamentenplan geprüft.
Wurden andere Ursachen ausgeschlossen, kann die Diagnose ME/CFS beispielsweise anhand der kanadischen Konsenskriterien (Canadian Consensus Criteria - CCC) sowie mithilfe standardisierter Fragebögen gesichert werden. Dabei wird unter anderem geprüft, ob folgende Kriterien auf Sie zutreffen:
- Die Beschwerden bestehen seit mindestens sechs Monaten.
- Es fällt Ihnen aufgrund der körperlichen und geistigen Schwäche zunehmend schwer, alltäglichen privaten und beruflichen Aufgaben nachzukommen.
- Schlaf führt bei Ihnen nicht zu Erholung.
- Schon nach leichter körperlicher oder auch geistiger Aktivität fühlen Sie sich extrem erschöpft (PEM).
Aktuell gibt es keine Therapie, die nachweislich gegen ME/CFS hilft. Hauptziel ist es daher, die Symptome zu behandeln und so Ihre Lebensqualität zu verbessern. Ihre Ärztin oder Ihr Arzt kann Ihnen beispielsweise Medikamente verordnen, die Schmerzen verringern, Schlafstörungen lindern oder Ihren Kreislauf stabilisieren. Zusätzlich kann bei leichter bis moderater Erkrankungsform eine kognitive Verhaltenstherapie oder eine Ergotherapie Betroffenen dabei helfen, mit der Erkrankung im Alltag umzugehen.
Um PEM vorzubeugen, gibt es die sogenannte Pacing-Methode: Dabei werden anstehende Aktivitäten je nach individueller Belastbarkeit über den Tag verteilt. Betroffene können so lernen, ihre persönlichen Energiereserven einzuschätzen und eine Überlastung möglichst zu vermeiden. Nutzen Sie Hilfsmittel wie etwa ein Aktivitätsarmband oder ein Aktivitätstagebuch, um Ihre persönliche Belastungsgrenze zu finden.
Was unterscheidet ME/CFS von einer Depression?
Beide Erkrankungen gehen mit starker Erschöpfung, Gedächtnisproblemen, Verlust der Libido und Schlafstörungen einher. ME/CFS beginnt in vielen Fällen plötzlich und wird auch von grippeähnlichen Symptomen begleitet (Kopf- und Halsschmerzen, schmerzhafte Lymphknoten, Fiebrigkeit). Eine Depression entwickelt sich dagegen meist schleichend.
Während sich die Symptome einer Depression durch regelmäßige körperliche oder geistige Aktivität oft spürbar bessern, verschlechtern sie sich bei ME/CFS dadurch zunehmend. Menschen mit einer Depression neigen häufig dazu, sich zurückzuziehen und zu resignieren, während Menschen mit ME/CFS in der Regel aktiv nach Hilfe suchen.
Weitere Informationen zu Anzeichen und Behandlung einer Depression finden Sie in unserem Artikel " Depression ".
Was können Sie tun, wenn Sie selbst betroffen sind?
Auch wenn es vielleicht schwerfällt: Akzeptieren Sie, dass Sie weniger belastbar sind, und erzwingen Sie nichts. Anstrengung kann Ihre Symptome sogar verschlimmern. Überprüfen Sie Ihre Lebensweise und Ihren Tagesablauf. Loten Sie dabei Ihre eigenen Leistungsgrenzen neu aus und richten Sie Ihr Tagespensum danach.
Mögliche Maßnahmen:
- Achten Sie auf einen geregelten Tagesablauf mit festen Mahlzeiten sowie Phasen für Aktivität und Erholung. Auch wenn Ruhe und Schlaf die Symptome nicht verbessern, empfinden viele Betroffene eine klare Tagesstruktur als wohltuend.
- Mit Entspannungsverfahren können Sie Ihren Alltag entschleunigen. Bewegung und Sport dagegen können die Beschwerden sogar verstärken.
- Nehmen Sie unterstützende Maßnahmen in Anspruch: Je nach Schweregrad können diese z. B. in flexiblen Arbeitsbedingungen, einer Reha oder Hilfe in Form von sozialrechtlichen Leistungen bestehen.
- Schließen Sie sich einer Selbsthilfeorganisation an. Der Bundesverband ME/CFS Fatigatio e. V. sowie die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e. V. bieten Informationen und Selbsthilfegruppen für Betroffene und Angehörige an.