Gegen Gewalt in der Pflege: Die Mitarbeitenden müssen dahinter stehen
Interview aus Sachsen
Gewalt in der Pflege - das Thema ist so alt, wie Menschen gepflegt werden, aber mit Einführung des Präventionsgesetzes 2016 hat die Auseinandersetzung damit in Deutschland Fahrt aufgenommen. Wie Programme zur Prävention von Gewalt in der Pflege aussehen könnten, welche Form, welche Inhalte sie haben könnten, darüber gab es bis dahin kaum gesicherte Erkenntnisse.
Vor vier Jahren wurde das Projekt PEKo "Partizipative Entwicklung von Konzepten zur Prävention von Gewalt in der stationären Pflege" ins Leben gerufen. Wir fragten Dr. Anja Bieber, die seit Anfang an dabei war, welche Erfahrungen gemacht wurden und wie es weitergeht.
TK: Was kann man sich unter PEKo vorstellen?
Dr. Anja Bieber: Es geht im Wesentlichen darum, Pflegende hinsichtlich des Themengebietes Gewalt in der Pflege zu sensibilisieren und gemeinsam mit ihnen ein für ihre Einrichtung abgestimmtes Konzept zu entwickeln. Jede Pflegeeinrichtung muss für sich entscheiden, welche Maßnahmen für sie geeignet sind. Wichtig ist, diese Maßnahmen möglichst nachhaltig zu implementieren.
TK: Bundesweit haben sich 49 Pflegeeinrichtungen an PEKo beteiligt, in Sachsen sogar zehn.
Bieber: Es war recht mühsam, Einrichtungen zu gewinnen. Ich kann es gut verstehen, wenn sich ein Pflegeheim damit nicht auch noch beschäftigen will. Die Einrichtungen sind überfrachtet mit Anforderungen und Qualitätsvorgaben. Das ist dann noch ein zusätzliches Thema, was oben draufkommt.
TK: Es muss eine Pflegeeinrichtung also wirklich wollen!?
Bieber: "Verordnet" oder "freiwillig" - das macht viel aus. Die Bereitschaft, sich auf dieses Thema einzulassen, muss von der Basis kommen. Die Mitarbeitenden müssen dahinterstehen. Der erste Schritt ist, sich dessen bewusst zu werden, was ist denn eigentlich "Gewalt"? Wie definieren wir Gewalt für uns? Es beginnt schon damit, wie ich mit einem Menschen spreche. Beispielsweise, ob ich einen alten Menschen, wie ein Kleinkind behandele. So sind Menschen mit Demenz sehr sensibel - ganz gleich, wieviel geistige Einbußen sie haben. Sie nehmen sehr wohl wahr, ob sie geachtet werden und ihnen aufrichtig begegnet wird. Diese Aspekte sind uns vielleicht nicht direkt bewusst, aber zählen zu einer Form der Gewalt, der psychischen Gewalt.
TK: Welche Formen der Gewalt gibt es noch in der Pflege?
Bieber: Wir unterscheiden noch drei weitere: die körperliche, die finanzielle und die sexuelle, Gewalt. Gerade körperliche Gewalt fängt viel früher an, als gemeinhin angenommen. Wo werden Bewegungsmöglichkeiten bei Pflegebedürftigen eingeschränkt? Das passiert zum Beispiel, wenn jemand stundenlang in einen Rollstuhl gesetzt wird. Oder denken Sie an Vernachlässigung: Wenn eine Pflegeperson nachts mit fünfzig Pflegebedürftigen allein auf einer Station ist. Und auch die Pflegenden müssen geschützt werden. Nicht nur vor Arbeitsüberlastung. Was muss und kann von einer Pflegenden tagtäglich bewältigt werden? Welche Unterstützung wird gebraucht?
Über PEKo
Vor vier Jahren hat sich ein Verbund aus drei Hochschulen gebildet, der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der Universität zu Lübeck und der Hochschule Fulda, um zusammen mit Unterstützung der Techniker Krankenkasse für stationäre Pflegeeinrichtungen ein innovatives Gewaltpräventionskonzept zu entwickeln, zu implementieren und zu evaluieren. Insgesamt 49 Pflegeeinrichtungen aus sechs Bundesländern waren involviert. Dr. Anja Bieber betreute gemeinsam mit ihrem Kollegen Steffen Fleischer zehn Einrichtungen in Leipzig und im Erzgebirge. Mittlerweile wurde dieses Projekt verlängert und ein Nachfolgeprojekt - diesmal in einem anderen Setting, nämlich im ambulanten und Krankenhaus-Bereich - ist gerade gestartet.
TK: Welche Möglichkeiten gibt es, präventiv vorzugehen?
Bieber: Zunächst müssen alle Beteiligten verstehen, was Gewalt in der Pflege ist und in welchen Formen und Ausprägungen Gewalt vorkommt. Viele Projektteams in den Einrichtungen haben dazu Plakate entwickelt, die gut sichtbar in den Wohnbereichen angebracht sind und Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Bewohner und Bewohnerinnen sowie Angehörige und Besucher auf das Thema aufmerksam machten. Um dauerhafte Veränderungen zu bewirken, muss eine Kultur der Achtsamkeit in den Einrichtungen entwickelt werden. Konkrete Vertrauenspersonen sind eine Maßnahme. Im Verdachts- oder bei Gewaltvorfällen sind sie ansprechbar. Regelmäßige Schulungen, Sensibilisierung schon bei der Einarbeitung neuer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und eine offene Kommunikationskultur in den Teams sind weitere Maßnahmen. Es gilt, diese fest im Qualitätsmanagement der Einrichtungen zu verankern und die Umsetzung auch zu prüfen.
TK: Das Projekt ist abgeschlossen, gibt es eine Fortsetzung?
Bieber: Die Arbeit in den Einrichtungen ist nur teilweise beendet; es geht nunmehr in die nächste Runde. Alle im Projekt gesammelten Erfahrungen fließen in ein Handbuch ein. Der Inhalt gliedert sich in: Definitionen und Formen von Gewalt, Anleitungen für Gewaltpräventionsprojekte sowie einen Katalog mit Maßnahmen zum Vermeiden, Umgehen und Aufarbeiten von Gewalt. Praxisbeispiele sollen zum kreativen Umgang mit dem Thema motivieren. Wir rechnen im Herbst mit der Fertigstellung und wollen dann noch einmal Einrichtungen für eine Projektteilnahme gewinnen. Diese Einrichtungen werden durch die Studienzentren im Umgang mit dem Handbuch angeleitet. Wir hoffen, auf diesem Weg eine Breitenwirkung zu entfalten und möglichst viele Pflegeeinrichtungen zu erreichen.
TK: Warum haben sich im sächsischen Raum an dem Projekt nur Pflegeheime aus Leipzig und dem Erzgebirge beteiligt?
Bieber: Die regionale Fokussierung ist dem Umstand geschuldet, dass die Projektbeteiligten aus den unterschiedlichen Heimen in Kontakt kommen sollten. So soll es auch in dem Folgeprojekt organisiert sein, das gerade gestartet ist und die Settings ambulante Pflege und Krankenhaus adressiert. Derzeit bemühen wir uns, Pflegedienste und Krankenhäuser in der Region Halle/Leipzig und Dresden zu gewinnen. Ich bin optimistisch, dass wir interessierte Einrichtungen finden. Kürzlich hatte ich Kontakt zu einer Seniorenberatungsstelle. Die Mitarbeiterin dort berichtete, Gewaltprävention sei bei der Pflege zu Hause jetzt häufiger Thema und wir würden mit offenen Armen empfangen.
Zur Person
Dr. Anja Bieber hat zunächst eine Ausbildung zur staatlich anerkannten Altenpflegerin absolviert, bevor sie an der EFH in Dresden Pflegewissenschaft und Pflegemanagement studierte. An der Universität Bradford hat sie anschließend einen Master zu Forschung und Pflege bei Demenz absolviert. Im Jahr 2019 wurde Anja Bieber promoviert mit einer Dissertationsschrift, die in einem europäischen Forschungsprojekt zum Zugang zu professionellen Hilfen bei Demenz erstellt wurde.