Hessen muss die Chancen der Digitalisierung für die Pflege ergreifen
Position aus Hessen
Die Pflege steht vor großen Herausforderungen: Immer mehr Pflegebedürftige müssen von immer weniger Pflegekräften versorgt werden. Als Antwort darauf reicht es nicht aus, lediglich weitere Pflegekräfte aus dem Ausland zu rekrutieren oder mehr Ausbildungsplätze zu schaffen.
Für die Pflege der Zukunft müssen zwingend auch die Chancen der Digitalisierung mitgedacht werden. Die Landesregierung und die ihr zugehörigen Organisationen können dabei helfen, die Potenziale zu heben. Die TK hat hierzu einige Vorschläge.
Die neue „Denkfabrik Pflege“ mit Leben füllen
Die Hessische Landesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, eine "Denkfabrik Pflege" zu initiieren. Noch ist unbekannt, wie dieser "Think Tank" mit Leben gefüllt wird. Aus Sicht der TK sollte sich die Denkfabrik auch mit digitalen Lösungen für die Pflege beschäftigen. Dabei sollte sie nicht nur Antworten auf die kurzfristigen Herausforderungen finden, sondern auch über den aktuellen Tellerrand hinausblicken und digitale Ideen für die weiter entfernte Zukunft entwickeln. In ihrer Arbeit sollte die Denkfabrik dabei konsequent die Perspektive der Praxis miteinbeziehen, also der Pflegekräfte, pflegenden Angehörigen und der Pflegebedürftigen selbst.
Mit digitalen Tools Pflegekräfte entlasten
Schätzungen der Caritas zufolge fließen etwa 30 Prozent der Arbeitszeit von Pflegekräften - sowohl in stationären Pflegeheimen als auch bei den ambulanten Pflegediensten - in die Dokumentation von Pflegeleistungen und in andere administrative Vorgänge. Das ist Zeit, die am Ende bei der Betreuung der Pflegebedürftigen fehlt. Digitale Anwendungen, die dazu beitragen, dass die Pflegekräfte an dieser Stelle entlastet werden und dadurch wieder mehr Zeit für menschliche Zuwendung gewinnen, sollten daher so schnell wie möglich Einzug in ihren Berufsalltag erhalten. Das wünschen sich auch 70 Prozent der professionell Pflegenden, wie die Trendstudie "Pflege 2024" erst kürzlich gezeigt hat.
Oftmals können schon kleine Schritte eine große Entlastung darstellen. Anwendungen, die den Dokumentationsaufwand und die Arbeitslast verringern, könnten zum Beispiel Spracherkennungs-Tools sein. Hier sprächen die Pflegekräfte lediglich ein, wann sie Pflegebedürftige mit Medikamenten sowie Mahlzeiten und Getränken versorgt haben, anstatt dies mühsam abtippen oder sogar noch händisch notieren zu müssen. Außerdem sind Anwendungen denkbar, die dafür sorgen, dass Vitalparameter wie Körpertemperatur, Herzfrequenz oder Blutdruckwerte automatisiert in die Pflegedokumentation übertragen werden.
Digitale Sensoren, die Pflegekräfte alarmieren, wenn ein Pflegebedürftiger gestürzt oder dehydriert ist, würden nicht nur den professionell Pflegenden, sondern auch den Pflegebedürftigen zugutekommen. Gleiches gilt für Simultan-Übersetzungs-Software, die bei der Verständigung zwischen ausländischen Pflegekräften und Pflegebedürftigen unterstützen könnte.
Zwei wichtige Voraussetzungen in der stationären Pflege müssen vorab erfüllt sein
Damit digitale Innovationen tatsächlich Einzug in Hessens Pflegeheime finden, müssen zwei wichtige Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen muss die Landesregierung dafür sorgen, dass die Einrichtungen an gigabitfähiges Internet angeschlossen werden - so wie es in der vergangenen Legislaturperiode bereits bei den hessischen Kliniken erfolgt ist.
Zum anderen muss sich die Landesregierung viel stärker als heute an den Investitionskosten der Pflegeheime beteiligen. Sonst können sich die Einrichtungen die Anschaffung von nötiger Technik entweder gar nicht erst leisten oder die Eigenbeteiligungen der Bewohnenden steigen durch die Neuanschaffungen noch weiter. Glücklicherweise hat die Landesregierung in ihrem Koalitionsvertrag bereits angekündigt, sich stärker an den Investitionskosten der Pflegeheime, insbesondere für digitale Anschaffungen, beteiligen zu wollen.
Ebenfalls bereits im Koalitionsvertrag enthalten ist die Ankündigung, das Thema Digitalisierung in der Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe, und damit auch in der Altenpflege, zu verankern. Das wird auch aus Sicht der TK dazu beitragen, dass Berührungsängste vor neuer Technik sinken und niemand im Digitalisierungsprozess abgehängt wird.
Digitale Tools für die häusliche Pflege
80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Hessen werden zu Hause von Angehörigen versorgt. Um den pflegenden Angehörigen den Alltag zu erleichtern, sollten auch hier mehr digitale Ansätze zum Einsatz kommen. Digitale Tools, die automatisiert Dehydrierung oder Stürze erkennen, sind nicht nur in Pflegeheimen eine wertvolle Unterstützung, sondern auch im häuslichen Umfeld.
Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz (KI) zur Spracherkennung können ebenfalls eine enorme Hilfe im häuslichen Umfeld darstellen. So könnten Seniorinnen und Senioren sowie deren Angehörige einer KI-Assistenz mitteilen, dass sie Lebensmittel bestellen oder Arzttermine vereinbaren soll.
Digitalkompetenz von Seniorinnen und Senioren stärken
Um digitale Anwendungen bedienen zu können, brauchen ältere Menschen nicht nur Offenheit, sondern auch Digitalkompetenz. Hier hat das Land mit dem von ihm initiierten und geförderten Projekt "Digital im Alter - Di@-Lotsen" bereits einen guten Weg eingeschlagen. Hessenweit gibt es mittlerweile fast 500 dieser ehrenamtlichen Lotsinnen und Lotsen, die Seniorinnen und Senioren dabei helfen, Hemmschwellen zur Nutzung von Handys und Tablets abzubauen und ihnen zeigen, wie sie diese gewinnbringend für sich nutzen können. Aus Sicht der TK sollten die "Di@-Lotsinnen und -losten" künftig verstärkt auch Menschen aufsuchen, die bereits im Pflegeheim leben. Diese Zielgruppe könnte von einer gestärkten Medienkompetenz ebenfalls profitieren und so viel einfacher digital mit Angehörigen in Kontakt treten, Bankgeschäfte erledigen oder Videosprechstunden bei einem Arzt oder einer Ärztin in Anspruch nehmen.
Digitale Pflegeanwendungen (DiPA) pushen
Das 2021 in Kraft getretene Digitale-Versorgung- und Pflege-Modernisierungsgesetz (DVPMG) ermöglicht zu Hause betreuten Pflegebedürftigen zudem die Nutzung von sogenannten Digitalen Pflegeanwendungen (DiPA). Im Gegensatz zu den Digitalen Gesundheitsanwendungen ("Apps auf Rezept") ist aber bislang noch keine einzige DiPA gelistet. Aus Sicht der TK könnte die Start-up-Förderung des Landes Hessen sowie das Förderprogramm "Dist@l" hier künftig einen Fokus setzen, um die Entwicklung von Digitalen Pflegeanwendungen zu pushen.
Heute schon in die Zukunft denken
Die Herausforderungen, die wir heute in der Pflege haben, werden sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen. Es ist daher zwingend erforderlich, sich bereits heute Gedanken über die weiter entfernte Zukunft zu machen. Die Gesellschaft muss sich verändern. Es müssen unter anderem neue Wege dafür gefunden werden, wie die Menschen leben und sich fortbewegen.
Viele Seniorinnen und Senioren könnten zum Beispiel länger eigenständig zu Hause leben, wenn die Begleitumstände besser wären. So ist es für viele mobil Eingeschränkte mühsam oder gar unmöglich, zu ihren Ärztinnen und Ärzten zu gelangen - vor allem im ländlichen Raum, wo die nächste Arztpraxis viele Kilometer weit weg sein kann. Hier könnten künftig autonome On-Demand-Fahrdienste eine mögliche Lösung sein. Was vielleicht nach Science Fiction klingt, wird aktuell von der Deutschen Bahn und dem Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) in Darmstadt und im Kreis Offenbach bereits erprobt. In den selbstfahrenden Autos, die per App angefordert werden, sitzt aktuell noch zur Sicherheit technisches Aufsichtspersonal. Doch in Zukunft könnten solche Angebote das Leben für mobil eingeschränkte Seniorinnen und Senioren - vor allem in ländlichen Regionen - deutlich erleichtern.
Auch ihre eigenen Wohnungen und Häuser werden für viele ältere Menschen zur Alltagsherausforderung, zum Beispiel wenn sie zu groß oder nicht barrierefrei sind. Gleichzeitig ist der Immobilienmarkt in vielen Regionen so angespannt, dass das Finden einer neuen, passenderen Wohnung kompliziert geworden ist. Hier könnten Plattformen eine Lösung sein, auf denen gezielt seniorengerechte Wohnungen gesucht werden oder auf denen Seniorinnen und Senioren ihre großen Wohnungen im Tausch gegen kleinere Domizile anbieten können. Das würde gleichzeitig auch jungen Familien helfen, die in zu kleinen Wohnungen leben.
Aufgaben für die „Denkfabrik Pflege“
Die neue "Denkfabrik Pflege" sollte aus Sicht der TK die zentrale Schaltstelle für die Digitalisierung der Pflege in Hessen werden. Hier sollten Ideen gemeinsam entwickelt und gebündelt werden. Eine Aufgabe des "Think Tanks" sollte es zum Beispiel sein, zu analysieren, wo die Bedürfnisse in der Pflege liegen und wo es den größten Bedarf an Entlastung gibt: Welche administrativen Arbeiten halten im pflegerischen Alltag am meisten auf? An welchen Stellen und in welcher Form würden sich die Pflegekräfte und pflegenden Angehörigen eine Entlastung durch digitale Hilfsmittel wünschen?
Außerdem wäre es aus Sicht der TK sinnvoll, wenn die "Denkfabrik Pflege" darüber hinaus Überlegungen anstellt, wie die Digitalisierung mit dazu beitragen kann, dass Seniorinnen und Senioren ihre Eigenständigkeit lange erhalten können und die Pflegebedürftigkeit möglichst spät eintritt. Fragen, mit denen sich die Expertinnen und Experten in diesem Zusammenhang auseinandersetzen sollten: Wie können ältere Menschen durch digitale Ansätze aus der Einsamkeit geholt oder zu mehr Bewegung animiert werden? Und wie können digitale Tools dafür sorgen, den im Alter immer beschwerlich werdenden Alltag besser zu bewältigen?
Kompetenzzentrum für Telemedizin und eHealth einbinden
Im nächsten Schritt könnte das landeseigene Kompetenzzentrum für Telemedizin und eHealth (KTE) anhand dieser Bedürfnisse eine Marktanalyse vornehmen und recherchieren, welche passenden Tools bereits auf dem Markt verfügbar sind. Überall dort, wo es noch nichts gibt, könnte das Zentrum, beziehungsweise die Landesregierung, entsprechende Entwicklungsaufträge an Hochschulen oder Unternehmen vergeben. Oder auch über das landeseigene Digital-Förderprogramm "Distr@l" Start-ups fördern, die aktuell an vielversprechenden Lösungen arbeiten.
Damit Pflegeheime, Pflegedienste, pflegende Angehörige sowie Seniorinnen und Senioren am Ende erfahren, welche digitalen Möglichkeiten es für sie gibt, sollten regelmäßig Infoveranstaltungen stattfinden. Im Rahmen von zum Beispiel durch das KTE organisierten Events könnte das Zentrum solche Anwendungen vorstellen und Tipps für die Anwendung und Implementierung geben. Diese Veranstaltungen könnten zum Beispiel "Smart Care"-Events genannt werden. Vor Ort könnten die Pflegekräfte und pflegenden Angehörigen Anwendungen ausprobieren und erleben. Auch die Seniorinnen und Senioren selbst könnten bei diesen Veranstaltungen sehen, welche digitalen Hilfen es für sie geben kann, die ihnen länger ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen.
Zudem wird die Anbindung der Pflegeheime an die Telematikinfrastruktur (TI) zum 1. Juli 2025 verpflichtend. Auch bei dieser Mammutaufgabe sollte das KTE unterstützen. Bereits heute berät das Zentrum Arztpraxen bei Fragen rund um die Anbindung an die TI und die elektronische Patientenakte. Die Zielgruppe sollte dringend auch auf Pflegeheime ausgeweitet werden, damit die Anbindung ab nächstem Sommer in Hessen möglichst unkompliziert erfolgen kann.
Insgesamt bleibt festzuhalten: Damit neue innovative Ideen entstehen und sich digitale Ansätze auch in der Pflege etablieren, braucht es ein digitalisierungsfreundliches Klima. Die Hessische Landeregierung und die ihr zugehörigen Organisationen wie die Denkfabrik Pflege oder das Kompetenzzentrum für Telemedizin und eHealth können hier einen wertvollen Beitrag leisten und dafür sorgen, dass digitale Lösungen bei allen Herausforderungen im Pflegebereich künftig stets mitgedacht werden.
Position der TK zur Digitalisierung in der Pflege
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