TK: Die Altenpflege steht vor enormen Herausforderungen. Nicht alle davon können mit mehr Personal - zum Beispiel rekrutiert aus dem Ausland - gelöst werden. Welche alternativen Lösungsansätze für die Pflege könnten Sie sich für die Zukunft vorstellen?

Kordula Schulz-Asche: Zuerst einmal möchte ich sagen, dass ich Migration angesichts des demografischen Wandels insbesondere für die Gesundheitsberufe für einen zentralen Baustein halte, aber sicher nicht den alleinigen. Schon jetzt sind Menschen mit Migrationshintergrund eine tragende Säule in allen Wirtschaftszweigen unseres Landes, und besonders in der Pflege. Wir haben schlicht nicht genug junge Menschen, die sich beruflich oder auch als pflegende An- und Zugehörige um die steigende Zahl von Pflegebedürftigen kümmern können. 

Kordula Schulz-Asche MdB

Portrait von Kordula Schulz-Asche MdB, Bündnis 90/Die GRÜNEN Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Sprecherin für Pflege- und Altenpolitik der Fraktion Bündnis 90/Die GRÜNEN

Die Pflege muss generell attraktiver werden. Kordula Schulz-Asche

Aber natürlich muss die Pflege generell attraktiver werden , denn wir stehen auch bei qualifiziertem Personal im internationalen Wettbewerb. Leider haben die Regierungen der letzten Jahrzehnte hier viel versäumt.

In den letzten drei Jahren konnten wir aber zahlreiche Erfolge erzielen. Dazu gehört in der Langzeitpflege die Erhöhung der Gehälter durch Tarifbindung. Zudem haben wir mit dem Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz unter anderem die finanzielle Unterstützung der pflegenden Angehörigen verbessert, auch wenn ich mir hier mehr gewünscht hätte. 

Wir werden die besondere doppelte Herausforderung des Fachkräftemangels einerseits bei steigender Nachfrage nach Gesundheits- und Pflegeleistungen andererseits nur durch neue strukturelle Angebote und eine bessere Zusammenarbeit aller Akteure meistern können. Dazu gehört vor allem die Aufwertung der professionellen Pflege auf internationales Niveau. Und deshalb ist mir gerade die Unterstützung des Deutschen Pflegerats beim Gemeinsamen Bundesausschuss besonders wichtig. Die Pflege braucht eine starke Stimme im Gesundheitswesen.

TK: Wie kann der Pflegeberuf aus Ihrer Sicht aufgewertet werden?

Schulz-Asche: Mit dem Pflegestudiumstärkungsgesetz und der Einführung des dualen Studiums haben wir die Voraussetzungen für mehr akademisch ausgebildete Pflegefachkräfte, wie in unseren Nachbarländern üblich, geschaffen. Von genauso großer Bedeutung ist die Schaffung einer bundeseinheitlichen Pflegeassistenzausbildung, denn hier werden wir in den nächsten Jahrzehnten Tausende brauchen. Das dafür vorgesehene Gesetz liegt im Prinzip beschlussfähig auf dem Tisch und hätte den Dschungel aus 27 verschiedenen Ausbildungen beendet. Stattdessen verschwindet es aller Voraussicht nach mit dem Ende dieser Regierung unter dem Tisch. 

Das gilt ebenfalls für das beratungsfertige Pflegekompetenzgesetz, mit dem die Fachpflege in diesem Land endlich in die Lage versetzt werden sollte, in komplexen fachlichen Pflegeprozessen eigenständig Heilkunde auszuüben. Insbesondere in den Bereichen der Versorgung von Diabetes, Demenz und chronischen Wunden haben wir mit dem Pflegestudiumstärkungsgesetz wichtige Weichen gestellt, an die man hätte anschließen können. Nun werden Pflegende weitere Monate, wenn nicht Jahre, damit verbringen, sich in überfüllten Hausarztpraxen für ein Rezept anzustellen.

Die Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe ist im Interesse der Menschen überfällig. Kordula Schulz-Asche

Die Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe einschließlich der Ärzteschaft im Interesse der Menschen jeden Alters ist überfällig. Und diese Zusammenarbeit muss dort stattfinden, wo die Menschen leben: in der Kommune, vor Ort. Einige Bundesländer machen vor, wie es gehen könnte; hier sei nur der erfolgreiche Pakt für die Pflege in Brandenburg erwähnt. Kommunen machen gute Erfahrungen mit dem Quartiersmanagement zum Beispiel im Bereich der sozialen Teilhabe, der Gesundheitsförderung und Prävention von Pflegebedürftigkeit. Vor Ort weiß man am besten, was die Bevölkerung braucht.

TK: An welchen Stellen, glauben Sie, könnte die Digitalisierung eine Entlastung für Pflegekräfte in Altenpflege-Einrichtungen darstellen? Welche digitalen Anwendungen wären vor Ort hilfreich, um den Arbeitsalltag besser zu gestalten?

Schulz-Asche: Die Digitalisierung in der Pflege ist ein unglaublich spannendes Feld. Hier schlummern riesige Potenziale für Maßnahmen zur Arbeitsentlastung, zum Beispiel durch einfachere übersichtlichere Dokumentationssysteme und Pflegeplanung, bei der nicht jede Woche gigantische Papiermengen von Hand befüllt werden müssen. Wenn gleichzeitig noch eine Schnittstelle zur Leistungsabrechnung mitgedacht wird, entlastet das auch das Pflegemanagement und vereinfacht die Verarbeitung der Daten bei den Kassen. 

Digitalisierung kann die Kommunikation innerhalb des Gesundheitssystems verbessern. Kordula Schulz-Asche

Auch die Kommunikation innerhalb des Gesundheitssystems kann Digitalisierung erleichtern.  Medikamentenpläne, Überleitungsbögen nach Krankenhausaufenthalten und Rezepte sind heute vielerorts immer noch papiergebunden. Papiere gehen aber auch mal verloren oder sind, wenn ich da aus früherer beruflicher Erfahrung als Krankenschwester sprechen darf, in einer Handschrift verfasst, die man nur mit jahrelanger Erfahrung entziffern kann.

TK: Welche digitalen Ansätze könnten Sie sich auch für die ambulante Pflege oder pflegende Angehörige vorstellen?

Schulz-Asche: Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Robotik haben in den nächsten Jahren das Potential, Pflege nicht nur zu erleichtern, sondern für alle Beteiligten zu verbessern. Hier besteht nicht nur Regulierungsbedarf, sondern auch die Notwendigkeit, die Pflege zu jeder Zeit mitzudenken.

Wir wissen aus anderen Ländern: Digitale Dokumentation und Kommunikation können Pflegekräfte entlasten. Für pflegende Angehörige denke ich vor allem an den Abbau von bürokratischen Hürden. Digitale Plattformen, die Informationen, Schulungsangebote und Hilfestellungen im Alltag bereitstellen und gleichzeitig die Antragstellung von Leistungen der Pflegekassen ermöglichen, könnten spürbar das Leben der Menschen erleichtern. Denn wer zuhause seine Nächsten versorgt, dem sollten wir es so einfach wie möglich machen, dies gut zu tun. 

Wer zuhause seine Nächsten versorgt, dem sollten wir es so einfach wie möglich machen. Kordula Schulz-Asche

TK: In Ihrer Funktion als pflege- und altenpolitische Sprecherin Ihrer Fraktion besuchen Sie sicherlich häufig Pflegeheime, um sich ein Bild über die Arbeit vor Ort zu machen. Nehmen Sie dort eine Bereitschaft wahr, sich auf die Digitalisierung einzulassen? Sehen die Einrichtungen die Digitalisierung als Chance?

Schulz-Asche: In 22 Jahren gesundheitspolitischer Arbeit bin ich wirklich viel herumgekommen und durfte verschiedene Modellprojekte zur Pflege, Pflegedienste und Pflegeheime in ganz Deutschland und insbesondere in Hessen besuchen. Mich laden vor allem diejenigen ein, die etwas Neues oder Besonderes machen - und meistens ist die Digitalisierung dort bereits angekommen. Jetzt geht es darum, diese Ansätze tatsächlich in die Breite zu bringen. 

Ich kann von überlasteten Pflegekräften nicht erwarten, dass sie ein komplett neues Dokumentationssystem von Beginn an perfekt nutzen. Aber ich glaube auch nicht, dass Pflegekräfte heutzutage Veränderungen kategorisch ablehnen, die ihnen die Arbeit grundsätzlich erleichtern. 

Die Hersteller digitaler Lösungen müssen die Zielgruppen und deren Bedarfe im Auge behalten. Kordula Schulz-Asche

Umso wichtiger ist es, dass die Führungskräfte vor Ort und die Hersteller der digitalen Lösungen ihre Zielgruppen und deren Bedarfe im Auge behalten und Pflegekräfte bei der Entwicklung und Implementierung einbeziehen.  Aber da bin ich mit Blick auf die Zukunft optimistisch.

TK: In der Politik geht es verständlicherweise oft darum, kurzfristige Lösungen für die akuten Probleme in der Pflege zu finden. Ein Blick in die weiter entfernte Zukunft wäre aber sicherlich auch spannend. Wie, glauben Sie, wird die Altenpflege im Jahr 2050 aussehen?

Schulz-Asche: Das ist eine spannende Frage. Im Jahr 2050 werden wir wahrscheinlich die Spitze unserer demografischen Belastungslage erreichen. Schätzungen zufolge werden wir dann fast 1,7 Millionen mehr Pflegebedürftige haben als im Jahr 2021. Ich hoffe also, dass wir bis dahin zu einem System gefunden haben, das diese Herausforderungen sowohl personell als auch organisatorisch bewältigen kann.

Ich würde mir wünschen, dass Menschen durch verstärkte Gesundheitsförderung und Prävention gar nicht oder erst viel später als heute schwer pflegebedürftig werden. Hoffentlich haben wir bis dahin flächendeckend digitale Systeme etabliert, die den Pflegenden mehr Zeit für den eigentlichen Kern ihrer Arbeit geben.

Ich möchte gern positiv in die Zukunft blicken. Kordula schulz-Asche

Ich möchte gern positiv in die Zukunft blicken, deswegen lassen Sie mich folgenden Punkt formulieren: Wir werden uns in der Langzeit- und Akutpflege noch viel mehr auf die Auswirkungen des Klimawandels vorbereiten müssen. Diese Diskussion ist mir aktuell noch nicht präsent genug. Deswegen hoffe ich, dass wir in 25 Jahren baulich angepasste Pflegeheime haben, die Bewohnerinnen und Bewohner besser durch Hitzewellen kommen lassen und die Arbeit des Personals wortwörtlich weniger schweißtreibend machen. Wenn die Einrichtungen dann selbst noch Solaranlagen auf dem Dach haben und CO2-neutral arbeiten, würde mich das als alte Grüne natürlich noch mehr freuen.

In den Pflegeeinrichtungen sehe ich in Zukunft eine selbstbewusste Berufsgruppe, die ihre Stimme in unserem Gesundheitssystem gefunden hat, die ihre berufspolitischen Interessen selbst vertritt und auf Augenhöhe mit anderen Professionen zusammenarbeitet. Gerade im ambulanten Bereich hoffe ich auf neue Berufsbilder, wie die Community Health Nurse (CHN). Die ostdeutschen Leserinnen und Leser werden sich an die Gemeindeschwester erinnern. Die CHN ist die modernisierte Version davon, natürlich ganz modern mit englischer Bezeichnung. Unsere Pflege muss sich weiterentwickeln und gerade bei neuen beruflichen Rollen mit einem interessanten Aufgabenspektrum haben wir noch einen weiten Weg zu gehen. Aber hoffentlich ist dieser bis 2050 ein ganzes Stück kürzer geworden.

TK: Sie haben angekündigt, bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr nicht mehr zu kandidieren. Haben Sie schon Pläne für die Zeit nach Ihrer aktiven Politik-Karriere?

Schulz-Asche: Konkrete Pläne habe ich noch nicht, aber erste Anfragen für ehrenamtliches Engagement haben mich bereits erreicht. Die Pflege in Deutschland weiter zu stärken, wird für mich immer ein großes Anliegen bleiben, auch nach meiner Zeit im Bundestag.
 

Zur Person

Kordula Schulz-Asche wurde 1956 in Berlin geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie zunächst eine Ausbildung als Krankenschwester. Danach studierte sie an der FU Berlin Kommunikationswissenschaften, Geschichte und Politologie. Das Studium schloss sie 1989 ab. Bereits 1983 zog Schulz-Asche für die Alternative Liste (heute: Landesverband Bündnis 90/Die Grünen Berlin) ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Von 1986 bis 1998 war sie in verschiedenen Ländern Afrikas in der Gesundheitsaufklärung tätig. Nach ihrer Rückkehr stieg sie 1999 für Bündnis 90/Die Grünen wieder in die Politik ein, zunächst im Main-Taunus-Kreis. Von April 2003 bis Oktober 2013 war Schulz-Asche Abgeordnete im Hessischen Landtag. 2013 zog sie erstmals als Abgeordnete in den Deutschen Bundestag ein. Dort ist Schulz-Asche Mitglied des Gesundheitsausschusses. Sie ist seit 2017 Sprecherin für Pflege- und Altenpolitik ihrer Fraktion.