Gesundheitsnotfälle kennen keine Grenzen
Interview aus Schleswig-Holstein
Vernetzung, Datennutzung und Patientensteuerung - Im Interview spricht Prof. Dr. Jan-Thorsten Gräsner, Direktor des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin am UKSH (IRUN), über ungenutzte Potentiale in der Notfallversorgung.

Sören Schmidt-Bodenstein: Als neu berufenes Mitglied im EU-Beratungsgremium für Gesundheitsnotfälle - was macht man da?
Prof. Dr. Jan-Thorsten Gräsner: Das Gremium besteht aus 46 Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fakultäten und Fachbereichen Europas. Neben Medizinerinnen und Medizinern sind auch Vertretende der Tourismusbranche und der Wirtschaftswissenschaften dabei. Gemeinsam beschäftigen wir uns mit der Frage: Ab wann spricht man von einem medizinischen Notfall, der über Ländergrenzen hinausgeht, und welche Auswirkungen hat das? Ein Beispiel: Was bedeutet es für die medizinische Versorgung oder den Tourismus, wenn keine Busse mehr fahren?
#SegelSetzen: Interview mit Prof. Dr. Jan-Thorsten Gräsner

Schmidt-Bodenstein: Was können wir denn von den Kolleginnen und Kollegen aus Europa lernen?
Prof. Gräsner: Wir müssen vernetzter denken. Der Medizinsektor ist zwar zentral, aber andere Bereiche müssen mitgedacht werden. Die Pandemie hat gezeigt, dass Maßnahmen wie Isolation auch Schulschließungen und andere Konsequenzen nach sich ziehen. Deshalb ist ein interdisziplinäres und vernetztes Denken essenziell.
Schmidt-Bodenstein: Beim Thema Vernetzung denkt man schnell an Digitalisierung. Wie steht Deutschland im europäischen Vergleich da?
Prof. Gräsner: Das kommt drauf an. Beim Thema Forschungsdaten stehen wir beim Datenschutz ganz weit oben, bei der Nutzung dieser Daten hinken wir eindeutig hinterher. Obwohl die EU-Verordnung für alle gleich ist, läuft es in anderen EU-Ländern deutlich besser. Die nur hundert Kilometer entfernten Dänen etwa ziehen schon längst Schlussfolgerungen anhand von Versorgungsdaten für die nächsten Patientinnen und Patienten. Das ist bei uns noch leider nicht möglich.
Schmidt-Bodenstein: Angenommen, du wärst Gesundheitsminister und müsstest die Notfallreform voranbringen - was wäre dein wichtigster Punkt bei der Notfallreform?
Prof. Gräsner: Wir brauchen eine bessere Vernetzung der verschiedenen Sektoren im Gesundheitswesen. Besonders wichtig ist eine klare Steuerung der Patientinnen und Patienten: Menschen in einer Notsituation können oft nicht entscheiden, ob sie in die Notaufnahme oder in die Hausarztpraxis gehen sollten. Wir müssen definieren, wie wir Patientinnen und Patienten auf den richtigen Versorgungsweg leiten - idealerweise durch einen gemeinsamen Dialog aller Akteure im Gesundheitswesen.
Wir brauchen eine bessere Vernetzung der verschiedenen Sektoren im Gesundheitswesen.
Schmidt-Bodenstein: Wenn wir das jetzt auf Schleswig-Holstein übertragen - was wünschst du dir von den Akteurinnen und Akteuren?
Prof. Gräsner: Schleswig-Holstein hat den Vorteil eines kleinen Bundeslandes mit vernetzten Akteuren im Gesundheitswesen. Klare Absprachen funktionieren hier gut. Verbesserungsbedarf gibt es jedoch beim Datenfluss: Informationen aus Kliniken, Rettungsdiensten und der Versorgungsforschung könnten besser zusammengeführt werden, um die Versorgung zu optimieren. Denn eines ist allen klar: Mit der Antwort "Mehr Notärzte, mehr Hubschrauber, mehr Rettungsdienste" kommen wir heutzutage nicht mehr weiter.
Schmidt-Bodenstein: Das Thema Ersthilfe liegt dir besonders am Herzen. Wie können wir mehr Menschen dafür begeistern?
Prof. Gräsner: Viele Menschen haben Angst vor Ersthilfe und unterschätzen ihre Bedeutung. Aufklärung ist entscheidend: Die Menschen sollten wissen, dass sie keine Angst haben müssen und dass jede Hilfe zählt. Wir sollten bereits in Schulen damit beginnen und niederschwellige Angebote in Betrieben oder Freizeitstätten schaffen. Gerade in Krisensituationen, bei denen eine Überbelastung unserer Gesundheitsversorgung herrscht, braucht unsere Gesellschaft mehr Gesundheitskompetenz.