Interview zur Digitalisierung mit Stefan Höcherl
Interview aus Mecklenburg-Vorpommern
Stefan Höcherl erläutert im Interview Pläne und Maßnahmen, für eine noch bessere Gesundheitsversorgung.
TK: Herr Höcherl, sie sind seit 2020 bei der gematik tätig und dort Leiter Strategie und Standards. Wie können unsere Leserinnen und Leser sich ihren Arbeitsbereich vorstellen?
Stefan Höcherl: Ich habe das Privileg mit vielen unterschiedlichen Experten und inspirierenden Persönlichkeiten Zukunftsfragen für digitale Medizin besprechen und bearbeiten zu können. Im Bereich Strategie und Standard analysieren wir Trends aus den vielfältigen Bereichen digitaler Gesundheit und ordnet sie in ihrer Relevanz für die gematik ein. Dazu gehören beispielsweise Überlegungen zu einem europäischen Gesundheitsdatenraum oder auch digitale Identitäten, etwa eine digitale Wallet, die persönliche Daten wie Kranken- und Impfausweis bereithält. Wir beschäftigen uns auch mit der europäischen Vernetzung und mit den Grundregeln für den grenzüberschreitenden Datenaustausch sowie der damit zusammenhängenden Anbindung Deutschlands. Die Zeiten könnten aktuell kaum spannender sein: Denn, nachdem wir in Deutschland primär sehr lange über digitale Lösungen debattiert und an Konzepten gefeilt haben, sind wir nun endlich an dem Punkt angekommen, wo große Anwendungen wie das E-Rezept, die elektronische Patientenakte oder auch der TI-Messenger in der Versorgung ankommen. Dadurch wird sich auch die Perspektive weiterentwickeln hin zu Erkenntnissen, Ergebnissen und Iterationen, die die Nutzererlebnisse weiter verbessern. Unser Aufgabenportfolio wächst entsprechend mit.
TK: Mit dem Thema Interoperabilität und Standards sprechen Sie Themen an, die sicher allen Akteurinnen und Akteuren im Gesundheitswesen wichtig sind. Wie ist es gegenwärtig um die Interoperabilität im deutschen Gesundheitswesen bestellt und welche Entwicklungsschritte liegen in Kürze vor uns?
Höcherl: Mit dem Ziel einer noch besseren medizinischen Versorgung schreitet die digitale Vernetzung im Gesundheitswesen immer schneller voran. Was wir dafür zuallererst brauchen, ist ein schneller und einfacher Austausch von Patientendaten - über IT-Systeme und Sektoren hinweg, zwischen Arztpraxis, Krankenhaus und Apotheke. Das kann nur gelingen, wenn dafür einheitliche Schnittstellen und Standards zur Verfügung stehen - und hier sind wir in Sachen Interoperabilität in den vergangenen Jahren ein gutes Stück vorangekommen. Mit dem Interop Council haben wir ein siebenköpfiges Expertengremium, - sozusagen einen "Nationalen Aufsichtsrat" für das Thema Interoperabilität - das thematische Vorbereitungen, fachliche Bewertungen und Empfehlungen für eine bessere Interoperabilität in Deutschland auf den Weg bringt und verbindlich kommuniziert.
Wir haben kooperativ mit den praktischen Experten eine klare und transparente Roadmap entwickelt für die Jahre 2023 und 2024. Wir haben einzelne Themen indikations- und anwendungs-fallbezogen von verschiedenen Seiten beleuchtet und priorisiert, diesen Prozess wiederholen wir zukünftig regelmäßig. Wichtig dabei ist, dass neben den technischen Basisarbeiten auch der Faktor Mensch, also der Anwender und Nutzer, eine zentrale Rolle spielt und unbedingt in die Prozessbetrachtungen mit einbezogen wird. Entlang von Versorgungspfaden, sogenannten Patient Pathways, ermittelt das Council mit uns und den Experten in den jeweiligen Feldern, wo es im Gesamtprozess im Fluss der medizinischen Daten hakt, weil etwa technische Vorgaben und organisatorische Verbesserungen notwendig sind. So wurden bereits die Versorgungsfelder Onkologie und Kardiologie und kürzlich erstmalig der Bereich "Pflege" sowohl technisch als auch prozessual beleuchtet und aus Sicht der Interoperabilität analysiert. Die Ergebnisse des Arbeitskreises und darüber hinaus alle Informationen zu unseren Arbeiten sind auf der Wissensplattform INA veröffentlicht.
Die Profiteure einer verbesserten Datenverfügbarkeit sind zahlreich: Grundsätzlich führt ein nahtloser Datenaustausch zwischen Haus-, Facharztpraxen, Krankenhäusern und Apotheken zu einer besser abgestimmten Versorgung und vor allem zu gut informierten Behandlungsentscheidungen. Doppel- und Fehlbehandlungen können dadurch reduziert sowie unerwünschte Medikationswechselwirkungen erfasst und schnell korrigiert werden. Ganz besonders können Patientinnen und Patienten mit chronischen Erkrankungen (wie z.B. Herzinsuffizienz oder Diabetes) oder Mehrfacherkrankungen von einem reibungslosen und sicheren Datenaustausch profitieren. Schließlich weisen diese Personengruppen die höchste Anzahl von Arztbesuchen und Klinikaufenthalten auf, müssen meist langfristig Medikamente einnehmen und Therapien wahrnehmen und sind daher ganz besonders auf eine kontinuierliche Versorgung und Abstimmung zwischen den Versorgern angewiesen. Hier spielt die elektronische Patientenakte (ePA) eine entscheidende Rolle. Die ePA ermöglicht es, medizinische Informationen sicher verfügbar zu machen und den Zugriff für medizinisches Personal zu erleichtern. Alle Leistungserbringer können Daten nutzen, um die Versorgungsqualität zu überwachen und Behandlungsergebnisse zu verbessern. Bei Notfällen kann der Datenfluss sogar lebensentscheidend sein: Liegen im Notfall medizinische Informationen bspw. einem Rettungsdienst und Krankenhäusern vor, kann schneller gehandelt werden. In Summe sind das alles auch Argumente, die für eine Krankenversicherung eine Relevanz haben, da sie Versorgung verbessern und den Ressourceneinsatz optimieren können.
TK: Gibt es "Das interoperable Gesundheitswesen" als fertigen Zustand oder ist die Arbeit für ein interoperables Gesundheitswesen kontinuierlich?
Höcherl: Das ist eine kontinuierliche Aufgabe, allein wegen dem medizinischen Fortschritt, der Zunahme an Daten und digitalen Services und Anwendungen. Medizin und Medizininformatik sind stetig im Wandel. Genauso ändern sich die Bedürfnisse von Leistungserbringern, Patienten bzw. Patientinnen und weiteren Stakeholdern im Gesundheitswesen hinsichtlich einer zielführenden Behandlung im Laufe der Zeit und damit auch die Use Cases. Es gilt auch hier, sich auf die verändernden Bedürfnisse einzustellen und entsprechende Anpassungen vorzunehmen. Um das Gesundheitswesen zukünftig interoperabel und international anschlussfähig zu gestalten ist es daher notwendig auf Trends und sich verändernde Bedürfnisse zu reagieren oder diese sogar proaktiv zu antizipieren. Dies gelingt nur, wenn die Arbeit kontinuierlich weitergeführt und bereits erarbeitete Prozesse oder eingesetzte Technologien regelmäßig auf den Prüfstand gestellt werden.
TK: Auch in Mecklenburg-Vorpommern setzen viele Expertinnen und Experten ihre Hoffnungen in die Digitalisierung, um die aktuellen Herausforderungen bewältigen zu können. Gibt es Themen und Aspekte, bei denen die dezentralen Akteurinnen und Akteure noch mehr tun können?
Höcherl: Mecklenburg-Vorpommern ist bei Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet besonders für Wellness und Prävention beliebt. Außerdem ist die Region geprägt von medizinischen Forschungseinrichtungen und Initiativen, die einen Beitrag für medizinische Weiterentwicklung und Förderung von Innovationen leisten. Für das wirkungsvolle Zusammenspiel der Akteure und Systeme über die regionalen oder fachspezifischen Grenzen der Medizin hinweg ist die schnelle Verfügbarkeit von qualitativ hochwertigen medizinischen Daten am Point of Care essentiell. Die elektronische Patientenakte kann dabei insofern unterstützen, indem sie den schnellen Zugriff auf Patientendaten ermöglicht, die Koordination der Versorgung unterstützt, Doppeluntersuchungen minimiert, die Notfallversorgung erleichtert und Telemedizin fördert.
Neben der Schaffung der grundsätzlichen technischen Voraussetzungen ist die Zusammenarbeit zwischen den lokalen Gesundheitseinrichtungen essentiell. Wichtig ist auch, dass Anwender und gleichermaßen auch Patientinnen und Patienten z. B. durch Workshops oder Schulungen über die Vorteile und Nutzungsmöglichkeiten der digitalen Gesundheitsversorgung vor Ort lokal informiert werden. Durch aktive Mitgestaltung und Nutzung von digitalen Angeboten - insbesondere DiGAs und E-Rezept oder TI-M für die medizinischen Anwender- und einem verstärkten Einsatz von Telemedizin können dezentrale Akteure die digitale Gesundheitsversorgung in Mecklenburg-Vorpommern stärken und effektiv zur Gesundheit der Bevölkerung beitragen. Genau hier könnten alle Versorgungs- und Forschungseinrichtungen und die Landespolitik an einem Strang ziehen. Denn im Kontext der digitalen Gesundheitsversorgung in Mecklenburg-Vorpommern könnten virtuelle Arztbesuche sowie Fernüberwachung und Telemedizin wichtige Bausteine in der Versorgung werden.
TK: Welche Entwicklungen und Verbesserungen würden Sie im Gesundheitswesen in den kommenden Jahren gern erleben?
Höcherl: Bei den technologischen Innovationen holen wir inzwischen gut auf, dennoch wollen weitere digitale Dienste und Anwendungen eingeführt und dann skaliert werden. Deshalb wünsche ich mir eine Intensivierung der kulturellen Innovationen. Damit meine ich mehr kollektiven Austausch zu den positiven Effekten und Vorteilen der ergänzenden Digitalen Medizin, die die Nutzerinnen und Nutzer und deren Use Cases noch stärker in den Mittelpunkt rücken. Dazu gehört auch, die Einbettung in die Anwendungsprozesse stärker zu fokussieren und die Anwendung für die Nutzer weiter zu erleichtern. Diese positiven Erfahrungen werden dazu führen, dass digitale Anwendungen und Services in der Breite noch mehr Akzeptanz finden und genutzt werden. Schließlich sind zufriedene Nutzerinnen und Nutzer die Basis für eine erfolgreiche Digitalisierung in der gesundheitlichen Versorgung.
TK: Herr Höcherl, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann. Haben Sie da noch Zeit für Freizeitaktivitäten? Wenn ja, verraten Sie uns welche, eher an frischer Luft oder mit einem guten Buch und einem Glas Rotwein?
Höcherl: Wie viele von den Leser:Innen sitze ich berufsbedingt zu viel, daher sind Familienaktivitäten und Sport in der Natur eine sehr willkommene Abwechslung.