TK: Frau Borchardt, wie kann aus Ihrer Sicht die Ausgabendynamik im pflegerischen Bereich gedämpft werden? 

Simone Borchardt: Die Versorgung der Hochbetagten und Pflegebedürftigen ist in Deutschland nicht mehr ausreichend gewährleistet. Insbesondere im ländlichen Raum stimmt die Nachfrage nach Plätzen in Pflegeheimen immer weniger mit dem Angebot überein. Das ist schon heute traurige Realität. Umso wichtiger ist es, nicht mehr an einzelnen Stellen rumzudoktern, sondern die Pflege endlich systemisch zu denken und an den Anfang des Prozesses zu gehen, um Ressourcen gezielt heben und Kosten einsparen zu können.

Zunächst gilt: Wir müssen ein generelles Umdenken in der Pflege erzielen - denn wer alt ist, ist nicht automatisch pflegebedürftig oder krank. Wir müssen also Strukturen schaffen, damit Menschen in unserem Land gesund altern können und im Alter noch so lange wie möglich selbstständig leben können. Hier müssen wir beim Gesundheitsmanagement in unserem Land ansetzen: Es gilt, gezielt in effektive Präventionsprogramme zu investieren und die Gesundheitskompetenz der Menschen zu stärken. Nur wenn wir die Menschen aktiv darin fördern, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und sie schon von früh auf für die Eigenverantwortung beim Thema Gesundheit sensibilisieren, können wir ein gesundes Heranwachsen und Altern fördern. Auf diese Weise ermöglichen wir den Menschen nicht nur ein Leben in Würde, sondern schaffen es zudem, Kosten für kostspielige Behandlungen und Pflegeheime hinauszuzögern - wenn nicht sogar ganz zu vermeiden. 

In diesem Sinne müssen wir auch bei der Pflegeinfrastruktur ansetzen und innovativ vorgehen: Dazu gehört der Bau barrierefreier Wohnanlagen und altersgerechter Wohnkonzepte wie Mehrgenerationen- und Seniorenwohngemeinschaften. Diese Konzepte ermöglichen es, die Selbständigkeit älterer Menschen länger zu bewahren und gleichzeitig soziale Kontakte zu fördern. Denn oft ist Einsamkeit ein Faktor, der sowohl für die mentale als auch physische Gesundheit hinderlich ist und damit ein gesundes Altern erschwert. Deswegen müssen wir den Mut zu diesem fortschrittlichen Denken haben. Doch damit ist es nicht getan, dieses Umdenken muss sich auch in den Begutachtungsrichtlinien bei der Festlegung von Pflegegraden widerspiegeln. Hier kann man nicht oft genug wiederholen: Nicht jeder, der alt ist, muss sofort gepflegt werden. Da muss bei den Richtlinien geprüft werden, wie am besten nachjustiert werden kann. 

Auch müssen wir auf einen oft vernachlässigten, aber sehr wirksamen Aspekt der Gesundheitsförderung eingehen, nämlich die Hilfsmittelbranche. Gerade in der Prävention ist die Bedeutung der Hilfsmittel in den letzten Jahren angestiegen: Viele repräsentative Studien haben gezeigt, dass der Einsatz von passenden Hilfsmitteln Krankheiten effektiv vorbeugen kann. So können Kosten eingespart und Ressourcen effektiv gehoben werden - indem etwa komplexe, kostspielige Operationen oder die stationäre Pflege vermieden oder hinausgezögert werden. Es ist also unabdingbar, Hilfsmittel stärker in den Fokus der gesundheitspolitischen Debatte zu rücken und bei der Ausgestaltung einer neuen Agenda Pflege mitzudenken!

Außerdem müssen wir die Stärkung der häuslichen Pflege sowie der pflegenden Angehörigen angehen. 84 % Prozent der Menschen werden nämlich schon jetzt zu Hause versorgt, 64 % Prozent der fünf Millionen Pflegebedürftigen werden dabei von ihren eigenen Angehörigen gepflegt. Es ist offensichtlich, dass pflegende Angehörige das Rückgrat der Pflege bilden. 

Eine echte Wende in der Pflege kann nur dann gelingen, wenn wir pflegende Angehörige besonders in den Fokus rücken und deren Belange ernst nehmen. Denn die Stärkung der pflegenden Angehörigen und der häuslichen Pflege kann die Unterbringung in kostspieligen Pflegeheimen verhindern bzw. hinauszögern. Gleichzeitig ist es leider häufig so, dass pflegende Angehörige es sich häufig nicht leisten können, neben ihrer Pflegetätigkeit eine Vollzeitstelle auszuüben. Oft sind eine schlechtere Bezahlung durch Halbzeitbeschäftigungen oder gar die komplette Aufgabe der Berufstätigkeit die unglückliche Konsequenz. Klar ist, dass wir da ansetzen und entsprechende Anreize schaffen müssen. Nur so können wir das Pflegesystem spürbar entlasten und den Menschen ein Altern in Würde ermöglichen. 

Simone Borchardt

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Mitglied des Bundestags, CDU

Zur Person

Simone Borchardt ist Mitglied der CDU und seit 2021 Mitglied im Deutschen Bundestag. Innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist sie unter anderem Berichterstatterin für Drogen- und Suchtpolitik, ärztliche Versorgung, Heil- und Hilfsmittelversorgung sowie Co-Vorsitzende in der Gruppe der Frauen. Frau Borchardt blickt auf mehr als drei Jahrzehnte Berufserfahrung im Gesundheitswesen zurück, bevor sie in den 20. Deutschen Bundestag gewählt wurde.

TK: Welche innovativen Impulse braucht der pflegerische Sektor aus Ihrer Sicht, um langfristig stabil wirtschaften zu können?

Borchardt: Die Stärkung der pflegenden Angehörigen und der häuslichen Pflege ist zweifelsohne die tragende Säule eines zukunftsfesten Pflegesystems. Doch man darf nicht außer Acht lassen, dass manchmal Pflegebedürftige nicht in den eigenen vier Wänden von Angehörigen gepflegt werden können. Hier müssen innovative Konzepte auf kommunaler Ebene greifen: Wenn wir es schaffen, dass zum Beispiel ein funktionierendes Quartiersmanagement eingeführt wird und Netzwerke aus Ehrenamt oder Nachbarschaftshilfen zu sogenannten "Caring Communities" ausgebaut werden, dann können wir bisher ungenutzte Reserven in einem sehr effektiven Ausmaß heben. Auch die bereits angesprochenen innovativen Wohnkonzepte müssen stärker in den Blick genommen werden. Deswegen heißt die Parole: Kommunen und Gemeinschaftsbildungen stärken! 

Wir dürfen es an dieser Stelle nicht belassen: Der demographische Wandel ist bereits eingetreten und macht auch vor dem Pflegepersonal nicht halt - es gilt vor allem, dem Fachkräftemangel mit wirkungsvollen Maßnahmen entgegenzuwirken. Dazu gehört einerseits das gezielte Anwerben von qualifiziertem Personal aus dem Ausland und die Verbesserung der Anerkennungspraxis von ausländischen Ausbildungsabschlüssen. Andererseits müssen wir die Zusammenarbeit von interdisziplinären Teams in der Pflege stärken: Es gilt, die Delegation von einfachen medizinischen Aufgaben im Rahmen einer Vernetzung von Arzt und Pflege entschlossen voranzutreiben und entsprechende Projekte konsequent zu fördern. Nur wenn wir systemisch vorgehen, können wir knappe Ressourcen effizient heben und gezielt einsetzen. Auch dürfen wir keine falsche Scheu vor dem Einsatz digitaler Anwendungen und Künstlicher Intelligenzen haben: Digitalisierung und KI bieten vielfältige Möglichkeiten, Pflegekräfte zu entlasten. Beispiele hierfür sind sprachgesteuerte Dokumentationssysteme, KI-gestützte Medikamentenverwaltung oder virtuelle Assistenzsysteme. Wichtig ist dabei, dass der Einsatz solcher Technologien als Arbeitsäquivalent anerkannt und entsprechend refinanziert wird. Zudem müssen wir vorausschauend denken und uns darüber Gedanken machen, wie wir den Pflegenachwuchs von morgen heranziehen: Es ist unerlässlich, ein gesellschaftliches Jahr für Jugendliche und Absolventen einzuführen, um diese für den Themenkomplex Pflege zu sensibilisieren und für entsprechende Tätigkeiten zu gewinnen.

Insgesamt zeigt sich: Nur mit einer ganzheitlichen Strategie kann der Kollaps der Pflege verhindert werden! Ein konstantes Erhöhen der Pflegebeiträge - so wie es die gescheiterte Ampelkoalition getan hat - kann nicht die Lösung sein!

TK: Wie können der Pflegesektor und das Gesundheitswesen aus Ihrer Sicht zukunftsfähig gemacht werden?

Borchardt: Einmal mehr sage ich: Wir müssen an den Anfang des Prozesses gehen. Es muss alles dafür getan werden, damit die Menschen in unserem Land gesund altern können. Wie kann uns dies gelingen? Die Antwort ist einfach und eigentlich schon altbekannt:  Wir müssen mehr in wirksame Präventionsprogramme investieren und die Gesundheitskompetenzen der Menschen erhöhen. Durch einen gesunden Lebensstil und eine aktive Gesundheitsförderung können wir Volkskrankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen sowie bestimmten Krebsarten vorbeugen. So kann nicht nur die Lebensqualität der Menschen deutlich angehoben werden - es können zudem hohe Kosten für die Behandlung dieser schwerwiegenden, aber grundsätzlich vermeidbaren Erkrankungen vermieden werden. Auch die Unterbringung in der stationären Pflege kann durch ein gesundes Altern umgangen bzw. hinausgezögert werden. Dass dies nicht nur finanzielle Einsparpotentiale birgt, sondern auch die bereits überforderten Gesundheitsberufler stark entlasten und zur Freimachung von Personalressourcen führen würde, liegt auf der Hand. Und genau dort müssen wir nun ansetzen!

TK: Vielen Dank für das Interview.