17 Mrd. Euro Finanzierungslücke in der GKV – was jetzt?
Artikel aus Schleswig-Holstein
Wir haben mit Sören Schmidt-Bodenstein, Leiter der TK-Landesvertretung Schleswig-Holstein, über die Finanzlücke in der GKV gesprochen und ihn gefragt, was jetzt zu tun ist.
TK: Die Finanzierung des Gesundheitssystems ist aktuell eines der wichtigsten gesundheitspolitischen Themen. Schätzungen des GKV-Spitzenverbandes zufolge wird 2023 eine Finanzierungslücke von 17 Milliarden Euro in der Gesetzlichen Krankenversicherung klaffen. Wie kann diese Lücke geschlossen werden?
Sören Schmidt-Bodenstein: Aus den Reserven der Krankenkassen kann die Finanzierungslücke jedenfalls nicht geschlossen werden. Diese sind so gut wie aufgebraucht. Eine Erhöhung des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes zu Lasten der Beitragszahlenden ist schon deshalb keine Option, weil die "Sozialgarantie", die Lohnnebenkosten nicht über 40 Prozent steigen zu lassen, dann kippen würde. Die Sozialversicherungsbeiträge liegen bereits jetzt knapp unter dieser Grenze.
Neben der Pandemie waren es vor allem teure Gesetz der vergangenen Legislaturperiode, die die Kosten in die Höhe getrieben haben. Allein in Schleswig-Holstein stiegen die Leistungsausgaben der TK im Vergleich 2019 zu 2020 um fast neun Prozent auf 1,48 Milliarden Euro. Die Leistungsausgaben der GKV insgesamt betrugen im Jahr 2020 fast 250 Milliarden Euro, im Jahr zuvor "nur" 239,5 Milliarden Euro. Hinzu kommt, dass die Ausgaben der GKV schneller wachsen als die Einnahmen durch Beiträge.
"Wir brauchen Lösungen auf der Ausgabenseite, um der Kostenentwicklung gegenzusteuern."
Statt ständig auf weitere Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt angewiesen zu sein, brauchen wir Lösungen auf der Ausgabenseite, um der Kostenentwicklung gegenzusteuern. Dazu muss die Bundesregierung schnell wirksame Strukturreformen auf den Weg bringen. Insbesondere bei den Krankenhausstrukturen und bei den Arzneimittelausgaben.
TK: Sie haben gerade die Arzneimittelausgaben in den Fokus gerückt. Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um den Ausgabenanstieg zu bremsen?
Schmidt-Bodenstein: Nach vorläufiger Auswertung sind die GKV-Ausgaben für Medikamente 2021 im Vergleich zum Vorjahr bundesweit um 7,8 Prozent auf 46,7 Milliarden Euro gestiegen. Besonders die Preise der patentgeschützten Arzneimittel treiben die Ausgaben in die Höhe. Diese machten zuletzt zwar nur 11 Prozent des Gesamtverbrauchs, aber mehr als die Hälfte der Gesamtausgaben aus.
Deswegen brauchen wir kurz- und langfristige Maßnahmen, um die Kosten in den Griff zu bekommen. Zum Beispiel wäre eine Senkung der Mehrwertsteuer auf den ermäßigten Satz von sieben Prozent - wie etwa für Grundnahrungsmittel, Blumen oder kulturelle Leistungen - und eine zeitlich befristete Anhebung des Herstellerabschlags von sieben auf 25 Prozent für patentgeschützte Arzneimittel schnell umzusetzen und wirksam. Allein in Schleswig-Holstein würde das zu Einsparungen von über 250 Millionen Euro jährlich führen, bundesweit wären es 9,1 Milliarden Euro. Ziel der Maßnahmen muss sein, einerseits den Zugang und die Bezahlbarkeit neuer Arzneimittel für alle Patientinnen und Patienten sicherzustellen und andererseits die Beitragsstabilität zu gewährleisten.
Um langfristig eine neue, faire Preisbildung etablieren zu können, ist die Orientierung am tatsächlich nachgewiesenen Nutzen neuer Arzneimittel sowie an weiteren objektiven Kriterien, wie etwa dem Aufwand für die Entwicklung neuer Medikamente, notwendig.
TK: Welche strukturellen Veränderungen müssen darüber hinaus im Gesundheitswesen umgesetzt werden?
Schmidt-Bodenstein: Da fällt mir zuerst der Krankenhausbereich ein - sowohl hinsichtlich der Finanzierung von stationären Leistungen als auch wegen dringend notwendiger Veränderungen in der Krankenhausplanung. Der Krankenhausbereich ist der größte Ausgabenposten in der Gesundheitsversorgung. Es geht hier aber nicht nur um das Geld, sondern auch um die Qualität der Behandlung und um die personellen Ressourcen.
"Wir brauchen mehr Spezialisierung unter den Krankenhäusern."
Wir wissen aus Umfragen , dass die Menschen sich bei planbaren Operationen eher für eine Klinik entscheiden die über umfassende Erfahrungen verfügt, dafür aber weiter weg vom Wohnort liegt, als für eine Klinik die "um die Ecke liegt", aber nicht für die Behandlung spezialisiert ist. Diesen Wunsch nach mehr Qualität sollten wir auch in der Krankenhausplanung berücksichtigen. Wir brauchen mehr Spezialisierung unter den Krankenhäusern, denn Erfahrung und Routine verbessern die Behandlungsergebnisse. Das Landeskrankenhausgesetz in Schleswig-Holstein bietet hierfür grundsätzlich eine gute Basis. Jetzt muss das Land Versorgungsaufträge auch klar definieren und den Kliniken vorgeben, was sie sinnvollerweise tun dürfen - und was nicht.
Eine so veränderte Krankenhausplanung mit klar definierten Versorgungsaufträgen für die Kliniken muss begleitet werden von einer Finanzierungsreform der Krankenhausvergütung, die aus einem Mix von Fallpauschalen, Vorhaltekosten und Qualitätszuschlägen besteht.
Kleine Krankenhäuser in ländlichen Regionen sind - wenn es um spezialisierte Leistungen geht - oft weniger stark aufgestellt. Parallel wird es in bestimmten Regionen des Landes immer schwieriger, die ambulant-ärztliche Versorgung sicherzustellen, weil Arztpraxen keine Nachfolgerinnen oder Nachfolger finden. Die Perspektive einer Neuausrichtung als regionales Gesundheitszentrum kann für kleinere Krankenhäuser die Chance bieten, sich stärker ambulant und vernetzt auszurichten. Diese Zentren stellen dann die 24/7-Akut- und Notfallversorgung in Kooperation mit dem Rettungsdienst, die ambulante Regelversorgung sowie die kurzstationäre Grundversorgung in den Bereichen Chirurgie und Innere Medizin sicher. Eine telemedizinische Anbindung an Krankenhäuser höherer Versorgungsstufen würde diesen neuen Versorgungsansatz ergänzen.