Kleiner Roboter geht für krebskranke Kinder zur Schule
Interview aus Thüringen
Im Interview spricht Mireille Le Lièvre darüber, wie ein Avatar an Krebs erkrankten Kindern das Lernen erleichtert und sie emotional stärkt.
Die Elterninitiative für krebskranke Kinder Jena e. V. hat mithilfe der TK einen Avatar für an Krebs erkrankte Schülerinnen und Schüler in Thüringen angeschafft. Die Heilpädagogin Mireille Le Lièvre arbeitet bei der Elterninitiative und spricht im Interview über ihre Erfahrungen mit dem digital gesteuerten Stellvertreter.
TK: Frau Le Lièvre, bei "Avatar" denkt vielleicht manch einer zuerst an den James Cameron Film oder ein Computerspiel. Können Sie bitte erklären, was Ihrer ist und kann?
Mireille Le Lièvre: Mit dem Avatar, den wir als Elterninitiative für krebskranke Kinder Jena e. V. angeschafft haben, können Kinder, die an Krebs erkrankt sind, während oder zwischen den Behandlungen im Krankenhaus weiter am Schulalltag teilnehmen.
In den meisten Fällen ist das sonst nicht möglich. Die Behandlungen, besonders Chemotherapie, schwächen die Kinder. Der Schulbesuch wäre körperlich zu anstrengend und das Immunsystem ist so stark angegriffen, dass der kleinste Infekt, von denen es in Schulen ja viele gibt, gefährlich werden kann.
Der Avatar ist ein kleiner Roboter, der stellvertretend für das Kind an dessen Platz in der Klasse gesetzt wird.
Der Avatar ist ein kleiner Roboter, der stellvertretend für das Kind an dessen Platz in der Klasse gesetzt wird. Er überträgt Bild und Ton ans Smartphone oder Tablet des Kindes. Das Kind kann den Avatar zum Beispiel aus dem Klinikbett oder vom heimischen Sofa steuern und darüber sprechen. Per Knopfdruck meldet sich der Avatar für das Kind und kann auch seinen Kopf drehen. Er sieht tatsächlich etwas aus wie ein Mensch und verändert auf Wunsch des Kindes sogar seine Augen, schaut also zum Beispiel fröhlich oder nachdenklich.
TK: Wieso ist so ein Stellvertreter nützlich?
Le Lièvre: Erkrankt ein Kind an Krebs, ist das erstmal für alle ein Schock. Zusätzlich zur Belastung durch die Krankheit verändert sich für das Kind das gesamte Umfeld. Sein Alltag wird häufig von Thema Krebs bestimmt, auch wenn gerade Behandlungspause ist.
Dann hilft es den Kindern sehr, wenn sie weiter am normalen Schulalltag teilnehmen können und dort ihre Freunde sehen. Das gibt ihnen ein Stück Normalität oder wenigstens die Chance, die Zeit zu überbrücken, in der sie nicht in die Schule können. Die sozialen Kontakte können so viel besser gehalten werden. Durch den Avatar ist das Kind gefühlt physisch in der Klasse mit dabei. Es kann Fragen stellen, Antworten geben und an einer Klassenarbeit teilnehmen. Klassenkameraden unterhalten sich auch in den Pausen mit ihrem Mitschüler oder nehmen seinen Roboter-Stellvertreter mit auf die Hofpause. Über den Avatar können die Kinder sogar bei einer Geburtstagsfeier dabei sein.
Natürlich ist es mit dieser Technik für Kinder auch leichter, die Lerninhalte zu verstehen und am Ball zu bleiben. Es gibt Möglichkeiten, in der Klinik oder zu Hause unterrichtet zu werden. Das ist allerdings nie dasselbe und steht und fällt mit personellen Kapazitäten.
Mit so einem Avatar sind die Chancen sehr gut, dass an Krebs erkrankte Kinder die Klasse nicht wiederholen müssen. Damit bleiben sie in der Klassengemeinschaft. Eine junge Patientin sprach einmal von einem verlorenen Jahr. Das können wir vielleicht mit dem Avatar umgehen.
TK: Wie kamen Sie auf die Idee, sich einen Avatar anzuschaffen?
Le Lièvre: Durch den Austausch mit anderen Elterninitiativen. Wir sind immer auf der Suche nach neuen Ideen, um den jungen Patientinnen und Patienten den Umgang mit ihrer Erkrankung zu erleichtern.
Im Gespräch mit der Familie, die den Avatar gerade nutzt, erfuhr ich von dem drängenden Wunsch, den Anschluss an die Klasse nicht zu verlieren. Also haben wir geschaut, was bzw. wer uns helfen kann und kamen auf den Avatar. Da wir auch für andere Projekte schon mit der Techniker Krankenkasse zusammengearbeitet haben, haben wir gefragt, ob Sie uns finanziell unterstützen.
TK: Gibt es bestimmte Krebsarten, ein bestimmtes Alter oder andere Kriterien, für die sich der Avatar besonders eignet oder nicht eignet?
Le Lièvre: Nein, das kann ich so pauschal nicht sagen. Natürlich steht die Krebstherapie erst einmal im Vordergrund. Wenn die Patienten davon sehr mitgenommen werden, denkt niemand an die Schule. Jeder Körper verträgt die Therapie sehr unterschiedlich. Und jedes Kind ist individuell.
Wir als Elterninitiative versuchen, möglich zu machen, was dem Kind und seiner Familie hilft. Das erfahren wir aus der intensiven Begleitung und den Gesprächen.
Wenn es weiter so gut funktioniert wie jetzt, werden wir sicherlich weitere Avatare anschaffen.
Im Moment nutzt ein Junge den Avatar, der gerade in die dritte Klasse gekommen ist, nennen wir ihn Paul [Anmerkung der Redaktion: fiktiver Name, um die Persönlichkeitsrechte zu schützen]. Paul ist ein richtiger kleiner Digitaljunge, der zum Beispiel Computerspiele mag. Für ihn passt der Avatar perfekt. Seine Mutter hat uns erzählt , dass er nach Monaten der Abwesenheit den Anschluss an seine Klasse so gut wie verloren hatte. Paul hatte Angst davor, wieder zur Schule zu gehen und in seine alte Klasse zu kommen. Wir haben den Avatar angeschafft und die Situation ist jetzt ganz anders.
Wir kennen aber auch Beispiele von Abiturienten, die mithilfe so eines Avatars ihren Abschluss machen konnten.
TK: Welche Herausforderungen gibt es denn beim Einsatz des Roboters?
Le Lièvre: Alle Eltern in der Klasse müssen zustimmen, dass der Avatar genutzt wird. Das ist gut so, aber manchmal auch etwas schwierig. Es haben immer noch viele Leute Angst vor solchen neuen Dingen. Ein Roboter im Klassenzimmer des Kindes. Ist das gefährlich? Werden vielleicht Daten abgegriffen? Das werden sie nicht. Die Kommunikation erfolgt verschlüsselt und die Technologie ist nun auch schon mehrere Jahre erprobt. Da haben wir viel Aufklärungsarbeit geleistet. Pauls Mutter hat uns dabei sehr unterstützt.
Auch mit der jeweiligen Schule muss im Vorfeld einiges geklärt werden, technisch und logistisch. Das ist viel Aufwand, aber der lohnt sich.
Und dann kommt natürlich die Finanzierung dazu. Wie immer bei unserer Arbeit. Es gibt noch mehr Kinder bzw. mehr Familien als Pauls, die sich durch einen Avatar Hilfe versprechen. Seit Juni 2022 testen wir aber erst einmal mit diesem einen Roboter.
TK: Wie geht es nach der Erprobungsphase weiter?
Le Lièvre: Wir haben mit Unterstützung der TK erst einmal einen Avatar fest angeschafft und den technischen Support für drei Jahre gesichert. Nach dem noch relativ kurzen Test sind wir sehr zufrieden. Wenn es weiter so gut funktioniert wie jetzt, werden wir sicherlich weitere Avatare anschaffen. Vielleicht ja wieder mit Unterstützung der TK.
Zur Person
Mireille Le Lièvre ist staatlich anerkannte Heilpädagogin (B.A.) und arbeitet seit Mai 2021 bei der Elterninitiative für krebskranke Kinder Jena e. V..
Die Initiative wurde 1990 von betroffenen Eltern gegründet und versteht sich als Anlaufstelle für krebskranke Kindern und deren Angehörige in allen Phasen der Krebstherapie und Krankheitsbewältigung sowie für verwaiste Familien. Das Spektrum der Unterstützung reicht von der psychosozialen Beratung bis hin zur Stärkung der Familien in der schweren Therapiezeit.
Ein persönliches Anliegen Le Lièvres ist es, Kindern Freude und Abwechslung im Stationsalltag zu schenken und manch hoffnungslose Situation gemeinsam mit den Familien schweigend mitzutragen.