#GesundeZukunftNds: "Wir müssen anfangen, die schönen Geschichten der Pflege zu erzählen"
Interview aus Niedersachsen
Früher oder später kommt jeder Mensch einmal mit dem Thema Pflege in Berührung. Ulrich Zerhusen übernahm vor über zehn Jahren das Familienunternehmen Zerhusen & Blömer. Es bietet ambulante, teilstationäre und stationäre Pflege in Kroge, Niedersachsen, an. Im Interview spricht Ulrich Zerhusen über die Philosophie der Unternehmensgruppe, die Bedeutung der Pflege in Zukunft und wie Digitalisierung in seinem Pflegedienst bereits Anwendung findet.
TK: Herr Zerhusen, Sie sind Geschäftsführender Gesellschafter der Zerhusen & Blömer GmbH und leiten die Pflegeeinrichtung St. Anna-Stift in Kroge, ein Familienunternehmen in zweiter Generation. Als sogenannter Komplexanbieter decken Sie mittlerweile die Bereiche der ambulanten, teilstationären und der stationären Pflege ab und verfolgen dabei eine Philosophie… Können Sie uns dies einmal näher erläutern?
Ulrich Zerhusen: Wir glauben fest daran, dass es sowohl für unsere Kunden als auch für uns als Anbieter nur Vorteile bietet, dass wir alle Versorgungsbausteine unter einem Dach zusammenführen. Die Pflegeinfrastruktur ist in Deutschland durch die Pflegegesetzgebung stark zersplittert. Es gibt viele heterogene Anbieter durch die sehr unterschiedliche Budgetstruktur. Aufgrund einer für die Pflege noch nicht nutzbaren Elektronischen Patientenakte, bedeutet dies für die Versicherten, immer wieder die gleichen Daten neu einreichen zu müssen (Diagnosen, Arztbriefe, Biografiearbeit); es bedeutet wechselnde Ansprechpartner, es bedeutet immer wieder neue Aufnahmen. Eine zweiwöchige Kurzzeitpflege kann so einen enormen Aufwand bedeuten, da es viel zu oft keine Schnittstelle zur ambulanten Pflege gibt.
In unserer Philosophie ist es uns wichtig, nicht nur ein Teil des Puzzles zu sehen, sondern den Menschen immer als Gesamtbild. Gute Versorgung bedeutet für uns, wenn alle Teile perfekt ineinandergreifen können. Als Pflegeanbieter sehen wir es als unsere Aufgabe, die Barrieren zwischen den einzelnen Versorgungsformen ganz gering zu halten. Wir begleiten unsere Kunden über ihren gesamten Lebensabschnitt oft zehn bis 15 Jahre, angefangen von Alltagsbegleitung zu Hause, dann über die ambulante Pflege, dann Tagespflege, Kurzzeitpflege, Wohngemeinschaften, Service Wohnen, vollstationäre Pflege bis zur Palliativversorgung und Sterbebegleitung am Lebensende.
In unserer Philosophie ist es uns wichtig, nicht nur ein Teil des Puzzles zu sehen, sondern den Menschen immer als Gesamtbild.
TK: Die Pflege steht immer wieder vor großen Herausforderungen, wie beispielsweise dem Personalmangel. Wie gehen Sie damit bei Ihnen um?
Zerhusen: Es gibt nicht zu wenige Pflegekräfte, sondern es gibt zu wenige Menschen, die unter den extrem herausfordernden Rahmenbedingungen in der Pflege arbeiten möchten. Die Lösung kann also nicht sein, immer neue Menschen "irgendwo" zu finden und dann von ihnen zu erwarten, in einem schlechten Umfeld zu arbeiten. Die Lösung kann nur sein, das Umfeld zu ändern, also eine Pflegewelt zu erschaffen, in der es schön ist, in der ich als Pflegefachperson gut und gerne arbeiten kann. Eine Pflegewelt also, die all das hat, was Menschen brauchen, um glücklich zu sein: Wertschätzung, Sichtbarkeit, Relevanz. Seitdem ich 2011 unser Familienunternehmen übernommen habe, war es mein Anspruch, als Allererstes, bei uns selbst anzufangen und eine Pflegewelt zu erschaffen, die so ist, wie Pflegekräfte sie sich wünschen. Ich glaube, das ist der Grund, warum ich in meinen Einrichtungen keinen Personalmangel habe.
Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass wir in der Kausalkette der notwendigen Veränderungen in der Pflegebranche als Allererstes unser Imageproblem lösen müssen. Wir müssen bei uns selber anfangen, die Werte, die wir uns für die Pflege wünschen in unserem eigenen Selbstverständnis zu leben und dann vor allem sichtbar zu machen! Wir müssen anfangen, die schönen Geschichten der Pflege zu erzählen!
Wir müssen anfangen, die schönen Geschichten der Pflege zu erzählen!
Daher habe ich 2018 die care&creation GmbH gegründet, eine Werbeagentur aus der Pflege für die Pflege. Mein Ziel: Die gesamte Branche aufzuwerten und zu zeigen, was wirklich in uns steckt. Kommunikation ist nicht nur "was mit Marketing" wie mir kürzlich jemand sagte. Kommunikation bedeutet, sich bewusst zu machen, wer wir sind und dies dann der Welt unmissverständlich klarzumachen. Marketing ist ein Werkzeugkasten voller Möglichkeiten. In der Pflege nutzen wir diese Möglichkeiten bisher nicht. Das ist einer der Gründe warum unsere Branche am Boden liegt.
TK: Wie soll eine optimale Pflege der Zukunft, Ihrer Ansicht nach, aussehen? Worauf kommt es an?
Zerhusen: Die optimale Pflege der Zukunft zeichnet sich aus meiner Sicht aus dem Vorhandensein vieler einzelner Bausteine in einer Quartierslösung aus. Weg von großen Pflegezentren, hin zu Einrichtungen, in den das Leben stattfindet, in denen Jung und Alt gemeinsam Aktivität genießen, z.B. in intergenerationellen Tagespflegen, wie wir sie gerade bauen. Die optimale Pflege der Zukunft nutzt zudem das große Potential des interprofessionellen Ansatzes, also der konzeptionellen Einbindung weiterer therapeutischer Professionen, Heilberufe und Ärzten in den Pflegeprozess. Insgesamt also eine Welt, die sich durch Aktivität und Möglichkeiten auszeichnet, nicht durch Passivität und Monotonie. Und als Modelleinrichtung nach Silviahemmet, wünsche ich mir natürlich, dass sich die Ansätze einer wirklichen personenzentrierten Pflege viel stärker im Pflegealltag etabliert haben werden.
Die optimale Pflege der Zukunft zeichnet sich aus meiner Sicht aus dem Vorhandensein vieler einzelner Bausteine in einer Quartierslösung aus.
TK: Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung im Pflegebereich?
Zerhusen: Die Digitalisierung bietet gerade für uns in der Pflege riesige Chancen, ist gleichzeitig aber eine ganz enorme Herausforderung. Es gibt aktuell keine saubere Refinanzierung für die enormen Kosten, die damit einhergehen. Eine IT-Stelle bekommen Sie z.B. mit den Pflegekassen nicht verhandelt. Es wird erwartet, dass Digitalisierung im laufenden Betrieb "mal so mitgemacht" wird. Das kann in der Breite nicht funktionieren. Digitalisierung erfordert eine Menge Ressourcen, insbesondere Geld und Zeit, bevor Sie erst zeitverzögert, irgendwann später die Früchte ernten können.
Mein Pflegedienst funktioniert heute, nach Jahren hoher Investitionen, komplett ohne Papier. Das größte Potential sehe ich in der Dokumentation per Spracherkennung, die wir bereits einsetzten. Ein ganz großes Thema ist auch die Telemedizin als Schnittstelle zu Ärzten und Pflegekassen, zum Beispiel für die Rezepte und Verordnungen von Pflegebedürftigen. Diese müssen aktuell noch in Papierform erst von der Arztpraxis abgeholt, dann handschriftlich ausgefüllt und schließlich per Post zur Pflegekasse geschickt werden. Dieser Prozess frisst die knappste Ressource, die wir haben: die Zeit unserer Pflegefachkräfte.
TK: Stichwort Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM): Im Rahmen des "Starke-Pflege"-Projekts der TK fördern Sie Mitarbeitende sowie die Bewohnerinnen und Bewohner des St. Anna-Stift Kroge. Wie sieht die Umsetzung der Maßnahmen bei Ihnen aus?
Zerhusen: In Kooperation mit Physiotherapeuten und Ergotherapeuten gibt es täglich gemeinsame Gruppenangebote mit Bewegungstraining, aber auch Einzelbetreuung, wie z.B. Gangtraining durch gemeinsame Spaziergänge, etc. Die Tatsache, dass jeden Tag interprofessionelle Kolleginnen und Kollegen der Physio und Ergo auf den Wohnbereichen und im Haus sind und für Bewegung und Training sorgen, hat zu großartigen, positiven Veränderungen geführt. Die Kolleginnen und Kollegen überlegen sich immer wieder neue Übungen für Körper und Geist, so dass es abwechslungsreich und spannend bleibt. Wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner im Rollstuhl kommt und plötzlich wieder über den Wohnbereich geht, wird der Erfolg des Projekts sichtbar. Das bedeutet für mich "Starke Pflege".
Wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner im Rollstuhl kommt und plötzlich wieder über den Wohnbereich geht, wird der Erfolg des Projekts sichtbar. Das bedeutet für mich "Starke Pflege".
Zur Person
Mit seinem Leitsatz "Pflege stark machen!" setzt sich Ulrich Zerhusen seit über 10 Jahren dafür ein, Wertschätzung, Status und Stellenwert der Pflege auf ein konstant höheres Niveau zu heben. Als Familienunternehmer mit 300 Mitarbeitenden ist er Geschäftsführender Gesellschafter der Zerhusen und Blömer Firmengruppe. Als Komplexanbieter bilden seine Einrichtungen die gesamte Versorgungskette in der Pflege ab. Um mehr Bewusstsein für die Bedeutung der Pflege zu schaffen und das Thema weiter in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken, vergibt er zusammen mit Königin Silvia von Schweden jährlich den Queen Silvia Nursing Award (QSNA) an Nachwuchs-Pflegekräfte. Als Gründer der Werbeagentur care&creation setzt er sich zudem für mehr Sichtbarkeit für die Pflege ein.
Mehr Informationen zu Zerhusen & Blömer Gmbh hier.
"Starke Pflege" Förderung der TK
Die Techniker unterstützt stationäre, teilstationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen, sowie Krankenhäuser dabei, gesundheitsfördernde Strukturen nachhaltig in den Pflegealltag zu etablieren. Dabei stehen die Beschäftigten sowie die Pflegebedürftigen im Fokus. Mehr dazu hier .