Suchterkrankungen sind eine Männerdomäne
Interview aus Niedersachsen
Geschlechtersensible Gesundheitsversorgung und -forschung ist in Deutschland kaum vorhanden und wenn, dann werde eher über Versorgungsbedarfe von Frauen geforscht als über die von Männern und Jungen, sagt Thomas Altgeld.
Als Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. setzt er sich seit 20 Jahren für Männergesundheit ein. Im Interview zieht er eine Zwischenbilanz.
TK: Herr Altgeld, Sie befassen sich schon länger mit dem Thema Männergesundheit. Was motiviert Sie, an dem Thema zu arbeiten?
Thomas Altgeld: So witzig das klingen mag, aber zum Thema gekommen bin ich vor gut 20 Jahren für den Arbeitsbereich Frauengesundheit in der Landesvereinigung. Frei nach dem Motto: "Jetzt müssen wir auch mal was für die Männer tun", nachdem wir bereits einige Jahre zum Thema Frauengesundheit gearbeitet hatten. 2002 war ich der einzige Mann im Team. Das Thema Männergesundheit hat mich gepackt, erstens weil es einfach auch viel mit mir selbst zu tun hat und zweitens, weil nach wie vor der Handlungsdruck sehr hoch ist!
TK: Was sind für Sie Erfolge einer geschlechtersensiblen Gesundheitsversorgung und -forschung? Wie haben Männer davon profitiert?
Altgeld: Geschlechtersensible Gesundheitsversorgung und -forschung ist in Deutschland kaum vorhanden. Wenn doch, dann wird eher über Versorgungsbedarfe von Frauen geforscht als über die von Männern und Jungen. Die nach wie vor patriarchal organisierte Medizin interessiert sich insgesamt kaum für Geschlechterfragen, und bei Männern jenseits der primären Sexualorgane nicht für männerspezifische, verhaltensbedingte Erkrankungen oder Zugangsbarrieren zum Versorgungssystem. Obwohl beispielsweise fast alle Suchterkrankungen abgesehen von Medikamentenabhängigkeit Männerdomänen sind, wird zu "Doing Gender with Drugs" in Deutschland praktisch nicht geforscht und die Arbeit von Suchtkliniken nicht männerspezifisch ausgerichtet. Momentan profitieren Männer allerdings von einem ganz anderen Trend, der Digitalisierung. Sie senkt Zugangsbarrieren. Digitale Bewegungs- oder Mental Coaches oder auch die Vermessung von Körperfunktionen sind geradezu ein Trend insbesondere in jüngeren Generationen.
TK: Was sind die derzeit wichtigsten Trends beim Thema Männergesundheit?
Altgeld: Die Unterschätzung von psychischen Belastungen und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit von Männern ist leider nach wie vor ein Megatrend in diesem Themenfeld. Obwohl die Suizidraten eine klare Sprache sprechen und Männer sich in allen Lebensaltern mehr als dreimal so häufig erfolgreich suizidieren als Frauen, gibt es keine nennenswerte Forschung zu "male depression" in Deutschland. Das sieht in angelsächsischen Ländern ganz anders aus. Der zweite besorgniserregende Trend ist, dass die Gesundheitsschere zwischen besser und schlechter gestellten Männern aufgeht. Böse gesagt, während die einen (besser gestellten) Männer mit hohem Bildungsniveau und Gesundheitsbewusstsein ihren Körper digital gestützt optimieren, vermindert sich die gesunde Lebenserwartung in schlechter gestellten männlichen Bevölkerungsgruppen. Ein positiver Trend ist allerdings auch zu verzeichnen: Es gibt immer mehr Männer, die eine aktive Vaterschaft leben und Care-Arbeit übernehmen. Das hat positive gesundheitliche Effekte für die Väter selbst, aber auch für die Gesundheit in Familien.
TK: Wo sehen Sie im Versorgungssystem den größten Veränderungs- und Reformbedarf?
Altgeld: Geschlechtersensibilität und -reflexivität muss in allen Gesundheits-, Sozial- und Bildungsberufen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung verankert werden, damit Geschlecht nicht auf Gendermainstreaming-Alibifloskeln in Forschungsanträgen und Klinikleitbildern reduziert wird. Die Weltgesundheitsorganisation hat 2018 für die europäische Region eine Strategie zur Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Männern und Jungen verabschiedet. Beides zusammenzudenken und die Verbindung zu Gleichstellungsfragen birgt die größten Potenziale für mehr Männergesundheit.
TK: Was meinen Sie, reden wir in 20 Jahren noch davon, dass wir das Thema Männergesundheit stärker in den Fokus rücken müssen, oder sind wir dann schon weiter?
Altgeld: Zwanzig Jahre sind für die beschriebenen Herausforderungen ein kurzer Zeitraum, deshalb kann ich da leider nicht viel Optimismus verbreiten. Die 20 Jahre, die ich mich jetzt für Männergesundheit engagiere, zeigen, wie schwer die Tanker der Gesundheitsforschung und -versorgung umzusteuern sind. Aber es gibt immer mehr Akteure und Akteurinnen, die es mittlerweile immerhin versuchen. Steter Tropfen höhlt den Stein, aber da wird es noch einige Jahrzehnte tropfen müssen für mehr Männergesundheit.