TK: Die flächendeckende Versorgung in Niedersachsen sicherzustellen wird eine große Herausforderung. Was können wir für die Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen aus der Pandemie lernen?

Mark Barjenbruch: Das Gesundheitssystem in Deutschland, das seinen Schwerpunkt in ambulanten Versorgungsstrukturen hat, ist besser durch die COVID-19-Pandemie gekommen als andere Länder. So wurden in Deutschland Patienten außerhalb von Krankenhäusern getestet und in der ambulanten Versorgung versorgt. Hier zeigen sich im Vergleich zu anderen EU-Staaten deutlich bessere Ergebnisse bei der ambulanten Krankenversorgung, bei Krankenhauseinweisungen, Intensivbehandlungen sowie Verstorbenen.

Beim Umgang der Gesundheitssysteme mit der Pandemie sind drei Elemente wichtig: Die Bedingungen für das Testen von COVID-19-Patienten, die Zuständigkeit für die Behandlung von Patienten sowie die Relevanz von stationären Intensivbettenkapazitäten.

Beim Thema Testen ist es wichtig, unter welchen Voraussetzungen und vor allem durch welchen Sektor im Gesundheitswesen die Patienten mit Verdacht getestet wurden. Es hat sich gezeigt, dass es in den Ländern weniger Ansteckungen in stationären Einrichtungen gegeben hat, in denen in ambulanten Versorgungseinrichtungen getestet wurde und noch wird. 

Mark Barjen­bruch

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Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen

Aus meiner Sicht war es wichtig, dass bereits im März 2020 die KVN Testzentren für alle gesetzlich Krankenversicherte aufgebaut hat - und dass es Versorgungsstrukturen in Praxen, Krankenhäusern sowie Labore "in der Fläche" in Deutschland gegeben hat. Auch der Einstieg der Praxen in die Impfungen hat den Schutz der Bevölkerung gesteigert.

Für mich ist das gute Abschneiden Deutschlands in der Pandemie eine Frage des Aufbaus des nationalen Gesundheitssystems. Wir haben ja keine andere Therapie als in unseren Nachbarstaaten, aber wir haben ein ambulantes System, das nur schwierige Fälle in die Krankenhäuser einweist. Dies zeigt auch mit Blick auf künftige Reformdiskussionen im deutschen Gesundheitswesen, dass eine Verschiebung der ambulanten Versorgung an Krankenhäuser keine gute Idee ist.

Für mich war insgesamt die schnelle Reaktion der Selbstverwaltung wichtig, damit Deutschland gut durch die Pandemie kommt.
Generell muss das deutsche Gesundheitssystem bei der Digitalisierung besser werden, auch mit Blick auf die Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen. Auch müssten Onlinesprechstunden weiter gehen - auch im Hinblick auf abnehmende Versorgungskapazitäten in der Zukunft. Auch müssen bürokratische Hürden in der ambulanten Versorgung abgebaut werden.

TK: Nach einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung droht Teilen Niedersachsens mittelfristig ein gravierendes Versorgungsproblem. Teilen Sie die Analyse?

Barjenbruch: Ja - ich teile die Analyse. In Niedersachsen werden bis zum Jahr 2035 die Anzahl der Hausärztinnen und Hausärzte auf rund 3.750 von jetzt 5.044 sinken, soweit keine weiteren Maßnahmen getroffen werden. In der fachärztlichen Versorgung wird es starke Tendenzen in Richtung Unterversorgung in den ländlichen Planungsbereichen geben. Betroffen sind die Fachgruppen der Augenärzte, HNO-Ärzte, Hautärzte, Nervenärzte und Urologen. Davon geht die Arztzahlprognose 2035 der KVN aus.

Mit der Arztzahlprognose 2035 aus dem vergangenen Jahr liegen der KVN neue Erkenntnisse in Form einer aktualisierten Studie des Ärztebedarfs in Niedersachsen vor. Und die Ergebnisse der durch die Leibniz Universität Hannover durchgeführten Studie bestätigen die schon für 2030 erkannten Gefahren für die flächendeckende vertragsärztliche Versorgung in Niedersachsen.
 
Die Kernaussagen der KVN-Arztzahlprognose 2035:

  • Die Anzahl der Hausärzte wird auf ca. 3.750 im Jahre 2035 sinken (2020: 5.044).
  • Der Großteil der ländlichen Hausärztlichen Planungsbereiche wird einen Versorgungsgrad unter 75 Prozent aufweisen und somit droht dort auch rechnerisch Unterversorgung.
  • Das Durchschnittsalter der Hausärzte wird sich jedoch nur leicht auf 55 Jahre (2035) erhöhen (2019: 54 Jahre) - bleibt aber hoch.
  • Der Frauenanteil unter den Hausärzten steigt von 41 Prozent (2020) auf 52 Prozent (2035).
  • Die ländlichen Planungsbereiche werden zunehmend deutlich schlechter versorgt sein als die städtischen.
  • In der allgemeinen fachärztlichen Versorgung gibt es teilweise starke Tendenzen in Richtung Unterversorgung in den ländlich geprägten Planungsbereichen.
  • In den allermeisten Bereichen Niedersachsens wird die Bevölkerung deutlicher älter und damit morbider werden (vor allem im Raum Südniedersachsen).

Die Ergebnisse der Prognose bestätigen den Kurs der KVN, bereits heute durch Mittel aus dem Strukturfonds in Niederlassungen, Anstellungen und Praxisübernahmen in Gebieten zu investieren, die in den Studien 2030 und 2035 als stark von Unterversorgung bedrohte Gebiete prognostiziert wurden. Dies wird zukünftig in noch mehr Planungsbereichen der Haus-, aber auch der Fachärzte notwendig sein.

Der alleinige prozentuale Rückgang von Hausärzten, so wie in der Robert Bosch Studie dargelegt, sagt aber noch nichts darüber aus, ob nicht trotz des Rückgangs weiterhin eine ausreichende Versorgung vorliegt. Schließlich ist die ausreichende Versorgung immer abhängig von der Bevölkerungsentwicklung. 
 
Die Robert-Bosch-Stiftung versucht aus eigenem Interesse ihre sogenannten Port-Zentren als Lösung zu präsentieren. Dies ist kein neuer Ansatz. Die Port-Zentren entsprechen im Wesentlichen den regionalen Gesundheitszentren aus dem Enquete-Bericht der niedersächsischen Landesregierung zur ärztlichen Versorgung. Zentren - egal wie man sie nennt - verfolgen das Ziel einer Verdichtung der Hausarztversorgung und werden eher nicht zur Versorgung mit Hausärzten in ländlichen Bereichen beitragen, sondern eher in Kreisstädten.

TK: Die Enquete-Kommission des Landtags hat sich intensiv mit der Zukunft der gesundheitlichen Versorgung befasst, wie bewerten sie die Ergebnisse und was sollte zügig umgesetzt werden?

Barjenbruch: Die Enquete-Kommission hat alle Bereiche der ambulanten und stationären Versorgung in Niedersachsen analysiert und dabei die Schnittstellen der Versorgungsbereiche einbezogen. Die ambulante medizinische Versorgung in Niedersachsen steht vor großen Herausforderungen. Der demografische Wandel, der auch vor den Ärztinnen und Ärzten nicht Halt macht, die Steigerung der Morbidität in unserer Gesellschaft und der fehlende ärztliche Nachwuchs sind aus Sicht der KVN die Themen, für die es eine Lösung zu finden gilt.

Die Enquete-Kommission hat zur Lösung dieser Probleme unterschiedliche Lösungsansätze entwickelt. Gerade in einem Flächenland wie Niedersachsen muss in Zukunft die wohnortnahe ambulante Grundversorgung für die Menschen sichergestellt bleiben. 
Um die wohnortnahe Versorgung auch bei spezialisierten Eingriffen sicherzustellen, empfiehlt die Kommission, Regionale Gesundheitszentren im Land aufzubauen. Die Regionalen Gesundheitszentren können in unterversorgten oder von Unterversorgung bedrohten Regionen eine medizinische Alternative für die Bürgerinnen und Bürger sein. Allerdings muss der Aufgabenbereich dieser Gesundheitszentren klar definiert werden.

Die KVN hat schon seit langem darauf gedrängt, die seit Jahrzehnten immer weiter zusammengekürzten Kapazitäten der medizinischen Fakultäten zur Sicherstellung des medizinischen Nachwuchses wieder aufzustocken. Hier wurde leider zu viel Zeit verschwendet und eine Gelegenheit vertan, dem drohenden und teils bereits realen Ärztemangel zu begegnen und die vertragsärztliche Versorgung mittel- und vor allem langfristig zu stärken. Selbst wenn ab sofort alle mehr oder minder konkret angekündigten Maßnahmen - mehr Studienplätze und eine Landarztquote - vollständig umgesetzt würden, wird dies bis 2035 keine nennenswerten positiven Effekte auf die Versorgung haben. Erst nach 2035 wäre langsam mit spürbaren Effekten zu rechnen.

Wichtig ist aus Sicht der KVN der Ausbau der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Hierzu muss die digitale Infrastruktur in den Krankenhäusern und den Praxen ausgebaut und die Schnittstellenproblematik behoben werden. Hier hat die Corona-Pandemie für einen Schub gesorgt. Wir müssen bei dem Thema am Ball bleiben.

Die KVN begrüßt weiterhin die Stärkung der Rolle der hausärztlichen Versorgung im Gesundheitssystem durch den Enquetebericht. Die Hausärztinnen und Hausärzte haben als Lotsen im Gesundheitssystem eine wichtige Funktion, die weiter ausgebaut werden kann und muss. Wichtig ist aber auch die ambulante fachärztliche Versorgung, die in der Enquetekommission häufig ignoriert worden ist. Niedersächsische Fachärztinnen und Fachärzte entlasten die Krankenhäuser und sichern die ambulante Versorgung. Es gibt keine doppelte Facharztschiene. Jede Versorgungsebene hat ihre Berechtigung.

Eines der wichtigsten Ergebnisse des Abschlussberichts sei die Empfehlung der Kommission, den gesetzlich vorgegebenen Verwaltungs- und Dokumentationsaufwand durch Entbürokratisierung zu reduzieren. Diese Empfehlung spricht unseren Mitgliedern aus der Seele. 
 
TK: Wie bewerten Sie die Einrichtung von Regionalen Versorgungszentren und wo machen diese aus Ihrer Sicht Sinn? 

Barjenbruch: Die KVN ist Projektpartner dieser Landesinitiative. Wir sind in den Gremien vom Lenkungskreis bis hin zu den drei lokalen Projektgruppen vertreten und arbeitet an der Konzeptionierung der jeweiligen Modellprojekte mit. Mit anderen Worten: Wir unterstützen die Projekte.

Viele Bürgermeister und Landräte haben bereits Maßnahmen zur Ansiedlungsförderung von Ärztinnen und Ärzten durchgeführt - zum Beispiel Praxisräume bereitgestellt, die Niederlassung finanziell gefördert oder eine Kooperation mit uns angestrebt. Bei der Errichtung von Regionalen Versorgungszentren ist aber noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Viele Kommunen können sich mit der Idee eines RVZ noch nicht anfreunden. Einigen Kommunen fehlt das Geld für eine solche Unternehmung, andere halten ihre Gemeinde für zu klein, teilweise fehlt es in den Gemeinden an unternehmerischer Kompetenz. Hinzu kommt, dass die Gründung eines RVZ für eine Kommune mit hohen finanziellen Risiken verbunden ist. Wie jeder Kassenarzt sind auch Gemeinden voll haftbar bei Behandlungsfehlern, Regressen und Insolvenz.

Hier werden wir die Entwicklung der bisherigen Modellvorhaben zu RVZ in Niedersachsen genau beobachten und Lehren daraus ziehen.

TK: Welche Rolle hat für Sie e-Health bei der zukünftigen Versorgung?

Barjenbruch: e-Health ist ein vieldiskutiertes Thema. Eine einheitliche und allgemeingültige Definition gibt es aber derzeitig nicht.

Im weitesten Sinne wird darunter die Überwindung zeitlicher und/oder räumlicher Distanzen im Rahmen von medizinischen Sachverhalten verstanden. Das beinhaltet hauptsächlich die Messung, Erfassung und Übermittlung von Informationen oder die Anwendung medizinischer Verfahren mit Hilfe der Informations- und Kommunikationstechnik zwischen Ärzten, beziehungsweise zwischen Ärzten und Patienten gegebenenfalls unter Einbindung von nichtärztlichem Fachpersonal.

Die KBV und die KVen haben in den vergangenen Jahren immer wieder Vorschläge gemacht, welche e-Health Leistungen in der vertragsärztlichen Versorgung eingesetzt werden könnten. Inzwischen konnte die KBV auch dank des E-Health-Gesetzes einige konkrete Anwendungen in den Einheitlichen Bewertungsmaßstab aufnehmen.

Die Überwachung von Patienten mit einem Defibrillator oder CRT-System wurde 2016 als erste telemedizinische Leistung in den EBM aufgenommen und kann seither abgerechnet werden. Damit können Kardiologen die Funktionsfähigkeit bestimmter kardiologischer Implantate auch telemedizinisch in der Praxis überprüfen.

Ärztinnen und Ärzte können Telekonsile mit anderen Ärztinnen und Ärzten zur Befundbeurteilung von Röntgen- und CT-Aufnahmen abrechnen. Die digitale Übertragung von Aufnahmen ermöglicht nicht nur einen schnellen fachlichen Austausch, sondern erhöht auch die diagnostische Qualität ohne zusätzliche Untersuchungen. Davon profitieren Ärzte und Patienten.

Bei langen Anfahrtswegen oder nach Operationen können Ärzte ihren Patienten während einer Videosprechstunde die weitere Therapie am Bildschirm erläutern oder den Heilungsprozess einer Operationswunde begutachten. So müssen Patienten nicht für jeden Termin in die Praxis kommen. Die Videosprechstunde hat sich auch während der Corona-Pandemie bewährt.

Weiterhin gibt es in der kassenärztlichen Versorgung eine Vielzahl an regionalen telemedizinischen Modellprojekten. In Niedersachsen werden im kassenärztlichen Bereitschaftsdienst bereits telemedizinische Anwendungen ausprobiert. So machen zum Beispiel Notfallsanitäter im kassenärztlichen Bereitschaftsdienst Hausbesuche und kontaktieren über Telemedizin den diensthabenden Arzt.

Gerade vor dem Hintergrund des zusätzlichen Bedarfs von Ärztinnen und Ärzten in ländlichen Regionen Niedersachsens macht e-Health Sinn. Grundsätzlich sind viele Formen und Bereiche denkbar in denen medizinisch relevante Informationen zwischen unterschiedlichen Akteuren mittels telemedizinischer Unterstützung übermittelt werden.

Für die vertragsärztliche Versorgung werden vor allem folgende Konzepte diskutiert:

  • Arzt zu Arzt:  Beispielsweise zur Abklärung von Fragestellungen mit einem räumlich weitentfernten Spezialisten, Teleradiologie oder auch Kommunikation zwischen Ärzten via eArztbrief .
  • Arzt zu Patient: Beispielsweise zur Nachsorge nach Einsatz von implantierbaren Apparaten und gegebenenfalls Monitoring von chronischen Krankheiten.
  • Arzt zu Medizinischer Fachangestellten: Beispielsweise im Rahmen von Hausbesuchen, die durch die MFA durchgeführt werden. 
  • Arzt zu Krankenhaus: Beispielsweise im Rahmen von Einweisungen und Entlassungen.

Natürlich hat der Datenschutz höchste Priorität. Der Ausbau von e-Health ist der derzeitigen Bundesregierung ein großes Anliegen. Hier besteht die Erwartung, dass die Herausforderungen des Gesundheitswesens, etwa die steigende Zahl von älteren und chronisch kranken Menschen oder die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung in strukturschwachen Gebieten, mit der Hilfe von e-Health bewältigt werden können. Allerdings muss die Finanzierung dieser neuen Leistungen in den Verhandlungen mit den Krankenkassen immer berücksichtigt werden. Für neue Leistungen muss auch neues Geld ins System. Außerdem muss das Breitbandnetz in Niedersachsen für derartige e-Health Anwendungen weiter ausgebaut werden.

TK: Vielen Dank!

Zur Person

Mark Barjenbruch

  • 1987 - 1993 Studium der Rechtswissenschaften in Hannover und Göttingen
  • bis 1996 Rechtsanwalt in Hannover
  • seit 1997 bei der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen tätig
  • 2001 - 2010 Hauptgeschäftsführer der Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen
  • seit Januar 2011 Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen