"Nicht jedes Krankenhaus muss jede Behandlung anbieten"
Interview aus Schleswig-Holstein
Wie stellen wir die Versorgung im Norden sicher? Wie lösen wir den Pflegenotstand? Und wie entlasten wir die Notaufnahmen? Antworten hierzu und auf weitere gesundheitspolitische Fragen liefert Lars Harms, der Spitzenkandidat des SSW in Schleswig-Holstein.
TK: Wie versorgen wir zukünftig Land und Inseln? Welche Maßnahmen möchten Sie auf den Weg bringen, um die medizinische und pflegerische Versorgung insbesondere in den strukturschwachen Regionen unseres Landes nachhaltig zu sichern? Welche strukturellen Synergieeffekte lassen sich aus Ihrer Sicht heben? Und wie kommen wir zu neuen Lösungen?
Lars Harms: Die Frage nach Land und Inseln macht direkt deutlich, vor welchen Herausforderungen wir in Schleswig-Holstein stehen. Schon heute ist der Weg zu medizinischen und pflegerischen Angeboten für viele Menschen weiter als in anderen Ländern. Dem SSW ist es daher besonders wichtig, diese Angebote in der Fläche nicht nur zu erhalten, sondern im Zweifel auch auszubauen. Um dies zu ermöglichen, setzen wir uns für eine solidarische Krankenversicherung und einen Systemwechsel in der Pflegeversicherung ein, der wirklich allen Pflegebedürftigen eine menschenwürdige und passgenaue Pflege ermöglicht. Gleichzeitig muss klar sein, dass nicht jedes Krankenhaus jede Behandlung anbieten muss. Um die bestehenden Häuser zu erhalten und den Menschen damit zumindest zumutbare Wege zur Grundversorgung zu sichern, brauchen wir aber auch hier eine Reform der Finanzierung. Wir müssen weg vom System der starren Fallpauschalen und z.B. dringend dafür sorgen, dass die Vorhaltekosten der Häuser stärker berücksichtigt werden. Außerdem wollen wir die Einrichtung von integrierten Versorgungszentren fördern, indem wir beispielsweise die Trennlinie zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Fachärzten aufheben.
TK: Muss es denn immer die Notaufnahme sein? Wer ein akutes medizinisches Problem außerhalb der Öffnungszeiten der Arztpraxen hat, ist oft gar kein Notfall. Dennoch steigen die Patientenzahlen in Notaufnahmen und bei den Rettungsdiensten rasant, ohne dass mehr Menschen stationär aufgenommen werden. Welche Veränderungen sind nötig, um diese Aufwärtsspirale zu stoppen?
Harms: Die Zahl vermeidbarer Notaufnahmen geht Jahr für Jahr in die Millionen. Bis zu einem Drittel aller Aufnahmen gilt als unnötig und bindet dringend benötigte Kapazitäten. Aus Sicht des SSW müssen wir deshalb endlich Entlastung für unsere Notfallambulanzen schaffen. Um die Situation zu entspannen, müssen wir grundsätzlich zu einer besseren Kanalisierung und Aufklärung der Patientinnen und Patienten kommen.
Um die Situation zu entspannen, müssen wir grundsätzlich zu einer besseren Kanalisierung und Aufklärung der Patientinnen und Patienten kommen.
Uns ist die Stärkung intersektoraler Angebote wichtig. Durch eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Anlaufpraxen, die sich in den meisten Fällen ohnehin an den Krankenhäusern befinden, und den Kliniken, können auch Doppel- oder Fehldiagnosen vermieden werden. Noch dazu schafft eine Ersteinschätzung in speziellen, vorgelagerten Zonen, weitere Entlastung. Das Ganze ist aber auch eine Ressourcenfrage. Über die erwähnten Maßnahmen hinaus, brauchen wir daher auch mehr Mittel für die Kliniken und eine bessere Vergütung ihrer Leistungen. Und wir benötigen hier mehr und im Zweifel auch spezialisiertes Personal. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, über eigens ausgebildete Notfallmediziner und -medizinerinnen nachzudenken. Diese leisten in anderen Ländern längst einen wertvollen Beitrag zur Entlastung der Notaufnahmen.
TK: Welche Krankenhäuser brauchen wir in Zukunft? Hand aufs Herz - welches ist für Sie das "richtige" Krankenhaus - das nächste oder das beste? Welche strukturellen Veränderungen der Krankenhauslandschaft müssen aus Ihrer Sicht vom Land konkret angestoßen werden, um den Spagat zwischen Wohnortnähe und Spezialisierung gelingen zu lassen?
Harms: Die Anzahl der Krankenhausbetten je 100.000 Einwohner bzw. Einwohnerinnen ist seit Jahren rückläufig. Im bundesweiten Vergleich liegt Schleswig-Holstein im unteren Drittel. Angesichts dieser Tatsache und vor dem Hintergrund unserer Herausforderungen als Flächenland setzt sich der SSW dafür ein, die bestehenden Kliniken zu erhalten und den Menschen damit zumutbare Versorgungswege zu sichern. Vorschläge zur Reform der Krankenhausfinanzierung, die die Vorhaltekosten kleinerer Kliniken berücksichtigen und so eine wohnortnahe Grundversorgung ermöglichen, liegen längst vor. Diese müssen dringend aufgegriffen und zeitnah umgesetzt werden. Auf der anderen Seite wollen wir die Spezialisierung und Kooperation unserer Kliniken so koordinieren, dass keine kostspieligen Doppelstrukturen bestehen und Menschen optimal versorgt werden können. Um all dies auch für die Zukunft sichern zu können, brauchen wir eine breitere finanzielle Basis. Zum einen müssen Land aber auch Bund bei den Investitionsmitteln nachlegen. Zum anderen brauchen wir eine wirklich solidarische Krankenversicherung, in der alle ihren fairen Beitrag leisten.
Auf der anderen Seite wollen wir die Spezialisierung und Kooperation unserer Kliniken so koordinieren, dass keine kostspieligen Doppelstrukturen bestehen und Menschen optimal versorgt werden können.
TK: Wie lösen Sie den Pflegenotstand? Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Schleswig-Holstein steigt. Damit Fachkräfte nicht aus der Pflege aussteigen und sich wieder mehr Menschen für den Pflegeberuf entscheiden gilt es - neben einer angemessenen Entlohnung - attraktive Rahmenbedingungen zu schaffen. Wie wollen Sie das als Teil der Landesregierung erreichen?
Harms: Pflege ist ein echter Knochenjob. Noch dazu sind Pflegefachkräfte viel zu oft auch psychisch sehr belastetet. Die Krankenstände sind deutlich höher als bei anderen Berufsgruppen. Auch vor dem Hintergrund der Pandemie bleibt die Arbeitsbelastung hoch und die Wertschätzung gering. Deshalb haben wir uns nicht nur wiederholt für einen besseren Lohn für diese wertvolle Arbeit eingesetzt, sondern u.a. eine eigene Strategie des Landes zur Förderung der psychischen Gesundheit von Pflegefachkräften gefordert. Noch dazu haben wir die pflegenden Angehörigen mehrfach in den Fokus gerückt und uns entsprechend für mehr Kurzzeitpflegeplätze und eine echte Lohnersatzleistung für diese Gruppe eingesetzt. Leider hat die amtierende Jamaika-Koalition all dies abgelehnt. Deshalb ist für den SSW völlig klar, dass wir diese Forderungen zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs auch als Teil der neuen Landesregierung wieder einbringen werden. Denn eins steht fest: Es reicht nicht, wenn wir nur darauf warten, dass der Bund endlich liefert und z.B. für eine verbindlichere Personalbemessung sorgt. Wir müssen auch als Land deutlich mehr tun, um die Situation für unsere Pflegekräfte zu verbessern.
TK: Dafür stehe ich beim Thema Gesundheitspolitik! Woran erkennen wir am Ende der neuen Legislatur - also im Jahr 2027 - die erfolgreiche Handschrift des SSW in der Gesundheitspolitik in Schleswig-Holstein?
Harms: Die erfolgreiche Handschrift des SSW wird sich vor allem durch eine Gesundheitspolitik zeigen, die die Versorgung vom Bedarf der Menschen aus denkt und die Angebote konsequent an ihrem Wohl ausrichtet. Gesundheitsversorgung und Pflege sind für uns Kern der staatlichen Daseinsvorsorge und nicht verhandelbar. Daher werden wir auch grundlegende Fragen zur finanziellen Basis oder zu Vor- und Nachteilen öffentlicher oder privater Trägerschaft aufwerfen. Hier werden wir für Lösungen kämpfen, die im Sinne der Patientinnen und Patienten sowie Pflegebedürftigen und nicht im Sinne irgendwelcher Investoren sind. Noch dazu wird unsere skandinavische Prägung auch dadurch erkennbar sein, dass wir die Weichen in Richtung einer solidarischen Steuerfinanzierung von Gesundheit und Pflege stellen. Letztlich wird unser Einfluss daher vor allem für die schwächeren Mitglieder unserer Gesellschaft spürbar. Denn wir wollen insbesondere in Strukturen zur Versorgung von psychisch Kranken, von Sterbenden oder zum Beispiel auch von Kindern sowie Menschen mit Behinderungen investieren. Gerade für diese Gruppen sind die Angebote längst nicht immer auskömmlich. Deshalb sind Land und Bund hier ganz besonders in der Pflicht.