TK: Eine bundesweit repräsentative Forsa-Befragung im Auftrag der Techniker Krankenkasse ergab, dass 88 Prozent der Menschen in Deutschland das Feld der Gesundheits- und Pflegepolitik als "sehr wichtig" oder "wichtig" für ihre Wahlentscheidung erachten. Wie sehr prägen Ihrer Ansicht nach gesundheitspolitische Themen den politischen Wettbewerb unter den Parteien?

Prof. Dr. Kai Michelsen: Gesundheits- und Pflegepolitik prägen den Wahlkampf derzeit kaum. Momentan dominieren Themen im Zusammenhang mit Migration oder dem Ukrainekrieg. Die Parteien können sich hier im Hinblick auf ihre Wählerklientel relativ gut positionieren.

Prof. Dr. Kai Michelsen

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Professor für Gesundheitspolitik an der Hochschule Fulda

Demgegenüber trifft auf die Gesundheitspolitik die Horst Seehofer zugeschriebene Aussage zu, dass man mit Gesundheitspolitik zwar Wahlen verlieren, aber nicht gewinnen kann. Sie ist vielen wichtig, Reformvorschläge haben in der Regel neben potentiellen Gewinnern auch Verlierer, viele Akteure können ihre Interessen öffentlichkeitswirksam vertreten und Parteien können sich im Hinblick auf ihre Wählerschaft weniger gut positionieren.

TK: Zum Jahreswechsel haben nahezu alle gesetzlichen Krankenkassen bundesweit Ihre Zusatzbeiträge erhöht. TK-Chef Dr. Jens Baas hält einen Anstieg der Krankenkassenbeiträge bis zu 20 Prozent noch in diesem Jahrzehnt für möglich, sofern nicht umfassende Reformen bei der Finanzierung umgesetzt werden. Wie bewerten Sie den Vorschlag von Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck, zur Stärkung der Sozialversicherung auch Kapitalerträge wie Zinsen und Dividenden mit Sozialabgaben zu belasten und die anschließende kontroverse Diskussion darüber?

Prof. Michelsen: Habeck wollte andeuten, in welche Richtung er gehen will. Er hat sich nicht zu Details geäußert. Ich teile die Auffassung, dass wir darüber nachdenken müssen, wie verschiedene Einkommensarten in die Finanzierung der Gesundheitsausgaben eingehen sollen. Dies betrifft neben Fragen der Besteuerung und des Einsatzes von Steuermitteln für Gesundheitsausgaben auch die Frage, ob es sinnvoll ist, die Berechnung der Prämien der gegenwärtig privat Versicherten in Anlehnung an das GKV-Solidaritätsprinzip einkommensabhängig zu gestalten und Schritte in Richtung einer Bürgerversicherung zu gehen. 

Eine Bewertung von Vorschlägen erfordert jedoch nähere Angaben zu den Zielsetzungen der Reformen, etwa zu Freibetragsregelungen und Beitragsbemessungsgrenzen. Es ist sorgfältig zu prüfen, wie unerwünschte Effekte etwa für die Altersvorsorge, auf Mietsteigerungen, Investitionen oder die Verlagerung von Vermögen ins Ausland vermieden werden können.

TK: Wie bewerten Sie die Parteiprogramme im Hinblick auf den Bereich der Gesundheitspolitik?

Prof. Michelsen: Oberflächlich betrachtet ähneln sich die Parteien zunächst, etwa wenn sie ankündigen wollen, sich für einen flächendeckenden, bedarfsangemessenen Zugang zu Leistungen, eine sektorübergreifende Verzahnung, bessere Arbeitsbedingungen der im Gesundheitswesen Beschäftigen, Bürokratieabbau und Digitalisierung einsetzen zu wollen.

Die Parteien grenzen sich demgegenüber deutlich voneinander ab, wenn sie zum Beispiel gemäß ihrer Klientel die freien Berufe oder die anderen Gesundheitsberufen unterstützen wollen, für die Gesundheitswirtschaft oder gegen privatwirtschaftliche Gewinnstreben sind. Die Liste lässt sich verlängern.

Das größte Konfliktpotential wird jedoch erkennbar, wenn die einen für ein Nebeneinander von GKV und PKV und andere für Schritte in die Richtung einer Bürgerversicherung plädieren. Konfliktträchtig ist auch die Forderung nach einer durch die Höhe der Einnahmen bestimmten Ausgabenbegrenzung, also nach einer Abkehr vom GKV-Bedarfsdeckungsprinzip. Sie geht mit Überlegungen zu Leistungsausgrenzung und zu einer umfassenderen privaten Absicherung einher. Ihr stehen Forderungen nach einer Ausweitung der sozialen Absicherung gegenüber. Rund um die Koalitionsverhandlungen ist damit in Anbetracht des gegenwärtigen Handlungsdrucks letztlich mit erheblichen Kontroversen zu rechnen.

Hinweis zur Person

Kai Michelsen (Prof. Dr. rer. med. Dipl.-Pol.) ist am Fachbereich Gesundheitswissenschaften der Hochschule Fulda Professor für Gesundheitspolitik. Er beschäftigt sich insbesondere mit der Entwicklung von Public Health in international vergleichender Perspektive und leitet den Masterstudiengang Public Health.