"Es hapert an universellen Schnittstellen."
Artikel aus Sachsen-Anhalt
Gastbeitrag zum Thema digitale Gesundheit von Dr. Heinz-Wilhelm Esser, der zu Deutschlands beliebtesten TV-Medizinern zählt und als Doc "Heiwi" Esser komplexe Zusammenhänge verständlich erklärt.
E-Health- Applikationen, auch Gesundheit-Apps genannt, liegen voll im Trend. 2016 gab es bereits 1,2 Millionen Health-Apps und jede beziehungsweise jeder zweite Besitzerin oder Besitzer eines Smartphones nutzt eine Gesundheits- oder Fitness-App. 2022 ist der Anbietermarkt noch größer geworden, wobei den größten Anteil Applikationen mit Selbstmanagement, Gesundheitsförderung und Prävention ausmachen.
Deutlich übersichtlicher wird es, wenn man nach Applikationen sucht, die von professionellen Anwendern aus dem medizinischen Bereich genutzt werden. Für die verschiedenen Fachbereiche der Medizin existieren nach wie vor erstaunlich wenig entsprechende Angebote, die dann oft einen informativen Inhalt haben und weniger zur Diagnostik und Therapie geeignet sind.
Mehr Struktur in der Zertifizierung
Dies ist erstaunlich, da ja durch das Inkrafttreten des Digitalen Versorgungsgesetzes seit Oktober 2020 sogenannte "Digitale Gesundheitsanwendungen" (DiGA) von den Krankenkassen übernommen werden - die "App auf Rezept". Abgesehen von dem Benefit für Patientinnen und Patienten besteht also durchaus auch ein monetärer Anreiz für kreative Entwicklerinnen und Entwickler. Aber ähnlich wie beim Grand Prix de Eurovision belegen wir in Sachen Digitalisierung der Medizin und medizinische Applikationen die hinteren Plätze. Woran liegt das?
Die größte Hürde für viele Entwicklerinnen und Entwickler ist sicherlich das Medizinproduktegesetz und die damit verbundene Notwendigkeit der Zertifizierung und Bereitstellung eines Qualitätsmanagements. Dies ist ohne Zweifel notwendig und unerlässlich zum Schutz des Anwenders, insbesondere wenn es sich um Therapien oder Behandlungsmethoden handelt, die sich individualisieren lassen und somit - ähnlich der Wirkung eines Medikaments - direkten Einfluss auf die Gesundheit der Betroffenen haben. Aber oft fehlt es an Wissen der Startups, wie vorzugehen ist, und vor allem kommt es zu nicht zu unterschätzenden Kosten, wenn es um die Zulassung geht. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass hier sehr viele Entwickler wieder auf dem Boden der Realität landen und deswegen viele großartige digitale Innovationen nie das Licht der Welt erblicken.
Hier würde ich mir mehr Klarheit und Struktur in der Zertifizierung wünschen, die für jeden nachvollziehbar und verständlich ist, sodass weiterhin die Sicherheit gewährleistet wird, aber der Qualitätsbeauftragte eines jungen Unternehmens nicht direkt das Handtuch schmeißt.
Anwendungen oft mit Inselcharakter
In vielen Fällen handelt es sich um digitale Anwendungen mit Inselcharakter. Sie leisten Erstaunliches, aber es hapert an einer universellen Schnittstelle zu Krankenhaus oder Praxissystemen, welches das Auslesen von Information unnötig erschwert. Schade eigentlich, denn eine schnellere Digitalisierung der Medizin bedeutet ganz profan für Erkrankte einen schnelleren Heilungserfolg, ein besseres Ansprechen der Therapie und sogar mehr Lebenszeit.
So konnte eine amerikanische Studie zeigen, dass Krebsbetroffene, die während einer Chemotherapie ein digitales Symptomtagebuch führten und somit in der Lage waren in Echtzeit Daten über ihren Zustand zu übermitteln, besser von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten therapiert werden konnten, da die Anpassung der Medikamente auf den aktuellen Gesundheitszustand ebenfalls in Realtime erfolgte. Das wiederum führte zu einem signifikanten Überlebensvorteil gegenüber der Kontrollgruppe.
Digitalisierung schafft Freiräume
In einer weiteren Studie wurde ein Entscheidungsunterstützungssystem in Form einer teilweise Algorithmus gesteuerten Dynamic-Spektrum-Sharing-Mobilanwendung (DSS) hinsichtlich Übereinstimmung (Konkordanz) zu den Behandlungsempfehlungen der multidisziplinären Tumorboards überprüft.
Zertifizierte Krebszentren sind angehalten, hundert Prozent aller an Krebs erkrankten Patientinnen und Patienten in multidisziplinären Tumorboards (MTD) vorzustellen. Dementsprechend erhalten auch Standardfälle einen "Besprechungsslot", der sich wiederum ungünstig auf die dann verkürzte Besprechungszeit der komplizierten Fälle auswirkt. Inwiefern kann ein Entscheidungs-Unterstützungs-System Tumorboards entlasten?
Insgesamt flossen Daten von 2.412 Prostatapatienten in die Studie mit ein. Die Gesamt-Konkordanz-Rate betrug 99,6 Prozent (2.406/ von 2.412), die stadienspezifischen Konkordanzraten betrugen 99,6 Prozent (Stadium I), 99,8 Prozent (Stadium II), 100 Prozent (Stadium III) und 99,3 Prozent (Stadium IV). Die Therapieempfehlungen, die aus dem Algorithmus der Applikation für den jeweiligen Patienten entstanden, entsprachen zu fast 100 Prozent den Therapieempfehlungen der Experten aus dem Tumorboard. Sprich: Mit Hilfe einer DSS-Mobilanwendung könnten zukünftig Tumorboards entlastet, aber auch in ihrer Qualität validiert und überprüft werden.
Das zentrale Instrument für eine patientenorientierte medizinische Versorgung kann nur die Digitalisierung in der Medizin sein. Dabei steht der Mensch im Mittelpunkt, sei es als Patientin oder Patient mit Zugang zu allen relevanten Faktoren, die seine Heilung fördern, oder sei es als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter unseres Gesundheitssystem, dem durch digitales Zuspiel mehr Zeit für seine Patientinnen und Patienten bleibt.
Zur Person
Dr. Heinz-Wilhelm Esser zählt zu Deutschlands beliebtesten TV-Medizinern. Doc "Heiwi" Esser erklärt komplexe Zusammenhänge für jedermann verständlich und wird für seine unkonventionelle Art geliebt. Sein ungewöhnlicher Lebenslauf ermöglicht ihm, Situationen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, und schafft großes Vertrauen zu seinen Patientinnen und Patienten beziehungsweise Zuschauerinnen und Zuschauern. Doc Esser war schon professioneller Schwimmer, erfolgreicher Musiker und App-Entwickler. Seine Fachgebiete als Oberarzt sind Kardiologie, Pneumologie, Angiologie und Intensivmedizin. Heinz-Wilhelm Esser lebt mit seiner Familie in Köln.