Digitalisierung als Chance für die Pflege
Interview aus Niedersachsen
Die Corona-Pandemiezeit stellt insbesondere den Alten-/Pflegebereich vor Herausforderungen. Aus diesem Grund gibt es aktuell einige Veränderungen in der Pflegeversicherung. Darüber hinaus bietet die TK ihren Versicherten weitergehende Unterstützungsmöglichkeiten und baut auch auf Chancen durch die Digitalisierung. Raphael Koßmann, Leiter Regionales Vertragswesen der TK-Landesvertretung Niedersachsen, erklärt bestehende und mögliche Lösungsansätze für die Herausforderungen in der Pflege.
TK: Herr Koßmann, welche wichtigen gesetzlichen Veränderungen gibt es aktuell?
Raphael Koßmann: Pflegebedürftige sind während der Corona-Krise von der Pflicht, einen Beratungsbesuch durch einen Pflegedienst abzurufen, befreit. Sie erhalten trotzdem weiterhin Pflegegeld von der Pflegekasse. Das regelt das am 25. März 2020 im Bundestag verabschiedete COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz, das auch zahlreiche Regelungen für die Pflege enthält.
Wer einen Pflegegrad beantragt, erhält darüber hinaus derzeit keinen Besuch durch den Medizinischen Dienst (MD), um den Grad der Pflegebedürftigkeit festzustellen. Die Einstufung erfolgt nach Aktenlage und gegebenenfalls telefonischer Befragung.
Pflegeeinrichtungen können im Rahmen des Pflege-Rettungsschirms monetäre Unterstützung beantragen, beispielsweise für den Mehrbedarf an Schutzausrüstung, die Finanzierung zusätzlicher Personalkosten sowie für den finanziellen Ausgleich von Mindereinnahmen.
TK: Was ist das Ziel dieser Regelungen?
Koßmann: Es geht darum, Kontakte zu vermeiden und die Pflegebedürftigen, die zu den Risikogruppen gehören, zu schützen. Zudem sollen auch die Fachkräfte entlastet werden, beziehungsweise Freiraum für andere Aufgaben erhalten.
TK: Welche Unterstützungsmöglichkeiten bietet die TK ihren Versicherten an?
Koßmann: Etwa zwei Drittel der Pflegebedürftigen in Niedersachsen werden zu Hause versorgt, ein Großteil davon durch Angehörige. Insbesondere die pflegenden Angehörigen müssen und wollen sich - nicht nur in dieser besonderen Zeit der Pandemie - viel Wissen rund um das Thema Pflege aneignen. Aus Befragungen wissen wir, dass viele Angehörige dafür aufgrund ihrer beruflichen oder familiären Situation nur ein begrenztes Zeitfenster zur Verfügung haben. Um hier zu unterstützen, setzen wir auch auf Onlineangebote.
Beispielsweise haben wir den TK-Pflegecoach entwickelt, den Pflegende mittels Smartphone, Tablet oder PC niedrigschwellig und mit geringem Aufwand nutzen können. Als digitaler Pflegekurs - oder als mobiles Nachschlagewerk - vermittelt der Coach Pflege-Know-how auf pflegewissenschaftlicher Grundlage. Pflegenden Angehörigen steht außerdem das TK-geförderte Online-Angebot "pflegen-und-leben.de" zur Verfügung, das in Belastungssituationen Rat und Hilfe durch ein speziell geschultes Psychologenteam bietet.
TK: Die TK steht dafür, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben. Welche Vorteile sehen Sie durch die Digitalisierung im Bereich Pflege?
Koßmann: Wir setzen auch bei der Pflege auf die Chancen der Digitalisierung. Gerade für die Pflegebedürftigen im häuslichen Umfeld und ihre Angehörigen bietet der technische Fortschritt Chancen auf Entlastung. Denn digitale Hilfen können den Versorgungsalltag unterstützen. Zudem hat unsere letzte Umfrage zum Thema Pflege gezeigt, dass 85 Prozent der Norddeutschen für digitale Lösungen offen sind.
TK: Können Sie das näher spezifizieren? Was sind die Vorschläge der TK?
Koßmann: So genannte "smarte Technologien" können für mehr Sicherheit bei Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen sorgen. Leider werden solche Smart-Home-Lösungen noch nicht im Leistungskatalog der Pflegeversicherung berücksichtigt. Wir setzen uns bundesweit dafür ein, dass der Leistungskatalog der Pflegeversicherung entsprechend erweitert wird. Die TK hat bereits mit einer Satzungsleistung die Weichen für die Nutzung digitaler Hilfsmittel gestellt.
Weiterhin sollten die Leistungen für sogenannte "wohnumfeldverbessernde Maßnahmen" im Bereich der technischen Hilfen im Haushalt auch für technische Assistenz- und Überwachungssysteme eingesetzt werden dürfen, die Pflegebedürftigen helfen, länger zu Hause wohnen zu können. Mehrere Bundesländer haben im März 2020 eine Bundesrats-Initiative zur Refinanzierbarkeit digitaler altersgerechter Assistenzsysteme im Rahmen des SGB XI initiiert. Die TK setzt sich bei der Politik dafür ein, dass Niedersachsen die Initiative und den Antrag im Bundesrat aktiv unterstützt.
TK: Wie sieht es speziell in Niedersachsen mit einer Pflege-Digitalisierungsstrategie aus?
Koßmann: Es gibt in Niedersachsen schon eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich über Pflege und Unterstützungsangebote zu informieren. Sie reichen von Beratungsleistungen der Pflegekassen über Pflegestützpunkte bis hin zu Modellprojekten in Kommunen. Was jedoch fehlt, ist eine nutzerorientierte Vernetzung dieser Angebote. In Niedersachsen besteht die Chance, durch die Konzertierte Aktion Pflege Niedersachsen eine gemeinsame Vernetzungs- sowie Digitalisierungsstrategie zu entwickeln.
Diese Chance sollte genutzt werden, beispielsweise für die Entwicklung und den Aufbau einer digital gestützten "Informationsplattform Pflege". Diese Plattform könnte die bisherigen Akteure vernetzen und ihr Angebot gebündelt ins Netz stellen. Außerdem böte sie als zentrale Anlaufstelle eine Übersicht über die wichtigsten einschlägigen Informationen. Auf dieser Plattform könnten perspektivisch zum Beispiel die Pflegestützpunkte auch neue digital unterstützte Beratungen wie eine videotelefonische Erstberatung anbieten. Eine tiefergehende Pflegeberatung würde durch Weiterleitung an entsprechend qualifizierte Pflegeberater erfolgen. Wichtig dabei ist, dass auch eine modern vernetzte Beratung im Bedarfsfall den direkten Kontakt vor Ort nicht ersetzt. Wir als TK unterstützen die aufsuchende Pflegeberatung, die wir auch weiterhin anbieten werden.
TK: Vielen Dank!