Einsamkeit - ein Interview mit Dr. Susanne Bücker
Einsamkeit ist ein quälendes Gefühl - und ein bedeutsames Risiko für unsere Gesundheit. Mittlerweile weiß man, dass Einsamkeit sich ähnlich negativ auf die Gesundheit auswirkt wie Rauchen, Bewegungsmangel oder Luftverschmutzung. Chronisch einsame Menschen leben häufig ungesünder, werden häufiger krank und sterben früher. Weltweit wird daher an Strategien gegen die Einsamkeit gearbeitet, auch in Deutschland. Die Psychologin und Wissenschaftlerin Dr. Susanne Bücker ist Professorin für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Witten/Herdecke und hat sich als Expertin für Einsamkeit einen Namen gemacht. Im Interview steht sie uns Rede und Antwort.
Frau Dr. Bücker, was verstehen Sie unter Einsamkeit?
In der Psychologie sehen wir Einsamkeit als ein subjektives Gefühl. Wir definieren Einsamkeit als wahrgenommene Diskrepanz zwischen den gewünschten und den bestehenden tatsächlichen Beziehungen. Man kann sich das vorstellen wie den Temperaturregler einer Heizung. Der sorgt dafür, dass die Heizung anspringt, wenn die Temperatur unter einen bestimmten Sollwert fällt.
Wir haben einen individuellen inneren Sollwert, wie unsere Beziehungen sein sollen.
Ähnlich haben auch wir einen individuellen inneren Sollwert, wie unsere Beziehungen zu anderen sein sollen. Unser "sozialer Thermostat" reagiert mit Einsamkeitsgefühlen, wenn die tatsächlichen Beziehungen nicht so sind, wie wir es uns wünschen. Zum Beispiel, weil es weniger sind, als wir wollen. Oder wenn die Qualität nicht stimmt, etwa wenn wir sie zu oberflächlich finden.
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Gibt es einen Unterschied zum Alleinsein?
Ja. Alleinsein ist der objektive Zustand, dass keine anderen Menschen um einen herum sind. Alleinsein kann zu Einsamkeit führen, muss aber nicht. Es gibt auch Menschen, die gern allein sind. Menschen unterscheiden sich überhaupt sehr darin, wie viele vertrauensvolle Beziehungen sie gerne haben möchten.
Wie viele Freunde brauche ich denn, um nicht einsam zu sein?
Das ist hochgradig individuell! Manchen Menschen reicht es, wenn sie ein- bis zweimal pro Woche mit jemandem telefonieren, dem sie vertrauen. Die allermeisten haben aber den Wunsch nach mindestens einer sehr vertrauten Person in der Familie, einer Freundschaft oder einer Liebesbeziehung. Sie wünschen sich jemanden, der sie versteht und mit dem sie ihre Erfahrungen und Gefühle ohne Angst teilen können. Viele brauchen mehr Kontakte, auch außerhalb der Familie oder einer engen Freundschaft.
5 bis 15 Prozent der Menschen in Deutschland sind chronisch einsam.
Kann Einsamkeit auch etwas Positives sein?
Nein. Beim Alleinsein ist das etwas anderes, das kann man als etwas Positives empfinden. Und vorübergehende Einsamkeit ist vielleicht eine negative Emotion, gehört aber zum Leben dazu - genauso wie Wut, Traurigkeit und andere negative Gefühle. Aber chronische Einsamkeit - nein, das kann man nicht positiv deuten.
Wie verbreitet ist Einsamkeit?
Weit über 80 Prozent der Menschen sagen, wenn man sie fragt, dass sie sich irgendwann in ihrem Leben einsam gefühlt haben. Die meisten finden nach einer Weile wieder befriedigende Beziehungen. Aber fünf bis 15 Prozent der Menschen fühlen sich chronisch einsam - in Deutschland also mehrere Millionen Menschen.
Zwei Lebensphasen bringen ein besonderes Risiko für chronische Einsamkeit mit sich: Das junge Erwachsenenalter zwischen 18 und 29 Jahren und das sehr hohe Alter über 80 Jahre. Bei den sehr alten Menschen führen zum Beispiel körperliche Einschränkungen oder der Tod von Lebenspartnern oder -partnerinnen zur Einsamkeit, vor allem, wenn sie im Heim leben.
Vor allem junge und sehr alte Menschen fühlen sich einsam.
Weshalb sind so viele junge Menschen einsam?
Junge Leute sagen oft: Ich habe zu wenig Zeit, meine Beziehungen so zu pflegen, wie ich es mir wünsche. Sie müssen viele Anforderungen ausbalancieren, die richtige Ausbildung finden, sich beruflich etablieren, sie ziehen öfter um und vieles mehr. Dabei bleiben die engen Beziehungen oft auf der Strecke.
In diesem Alter entwickeln wir auch unsere Identität. Dazu brauchen wir andere Menschen, die uns spiegeln. Wir sind fit, gesund, wir haben oft viele Möglichkeiten, unser Leben zu gestalten. Deshalb gehen junge Menschen anspruchsvoll an ihre Entscheidungen heran, auch in der Wahl ihrer Beziehungen.
Was junge Menschen noch nicht so gut gelernt haben, ist, Situationen zu optimieren, die am Anfang nicht so optimal sind. Also Probleme zu lösen oder sich Unterstützung zu suchen, wenn etwas noch nicht so gut funktioniert. Die Älteren sind da im Vorteil. Man spricht ja nicht umsonst von der sozialen Weisheit des Alters im Umgang mit herausfordernden sozialen Situationen.
Welche Rolle spielt das Selbstwertgefühl?
Soziale Beziehungen sind für unseren Selbstwert sehr wichtig - besonders wenn wir jung sind. Sie bestätigen, dass wir als Mensch wertvoll sind. Wenn wir diese Bestätigung nicht bekommen, sinkt das Selbstwertgefühl - und das wiederum führt zu Unzufriedenheit mit den sozialen Beziehungen.
Junge Menschen neigen stärker als Ältere dazu, sich mit anderen zu vergleichen. Fällt der Vergleich negativ aus, ist der Selbstwert bedroht. Das gleiche kann passieren, wenn man das Gefühl hat, zu spät dran zu sein mit bestimmten Entwicklungsaufgaben im Leben. Noch immer auf der Suche nach der richtigen Ausbildung? Noch immer keine enge Partnerschaft gefunden? Noch immer nicht den richtigen Job? Es gibt normative Erwartungen der Gesellschaft, bis wann so etwas erreicht sein sollte. Denen hinterherzuhinken, belastet das Selbstwertgefühl.
Was passiert, wenn das Selbstwertgefühl gering ist?
Wenn man sich selbst nicht wertschätzt und überkritisch mit sich selbst ist, hat man oft große Schwierigkeiten, auf andere zuzugehen. Vor allem wegen der Angst, von anderen zurückgewiesen zu werden. Denn man geht ja davon aus, dass man nicht in Ordnung ist.
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Warum ist es so schwer, aus der Einsamkeit herauszukommen?
Einsamkeit ist nach wie vor stigmatisiert. Deshalb sprechen die Leute nicht darüber. Sie denken: "Mit mir stimmt etwas nicht". Sie schämen sich und geben sich selbst die Schuld daran, dass sie wenig oder nur oberflächliche Kontakte haben. Dadurch sprechen sie erst sehr spät über diese Gefühle oder suchen sich Hilfe. Dann haben sich die Verhaltensmuster schon verfestigt, und es ist es schwieriger, daraus wieder auszubrechen.
Einsamkeit ist stigmatisiert. Deshalb sprechen die Leute nicht darüber.
Können Sie das genauer beschreiben?
Am Anfang ist es oft schwer, auf andere Menschen zuzugehen. Wir sind es nicht mehr gewohnt, uns in sozialen Situationen flexibel zu verhalten. Das merkt unser Gegenüber und möchte sich dann vielleicht nicht mit uns unterhalten. Man fühlt sich bestätigt, dass man offensichtlich abgelehnt wird. So etwas kann zu einer negativen Spirale führen.
Chronisch einsame Menschen sind außerdem sensibler für Signale, die auf Ablehnung deuten. Sie neigen dazu, solche Signale - zum Beispiel einsilbige Antworten - als persönliche Ablehnung zu interpretieren. Auf die Idee, dass sie auch andere Gründe haben könnten, zum Beispiel Zeitdruck, kommen sie gar nicht.
Ist das nicht auch ein Ansatzpunkt für eine Veränderung?
Ja, genau. Es ist sehr hilfreich, sich der negativen Verzerrung bewusst zu werden. Und sich dann zu fragen, ob man die Situation auch anders interpretieren könnte. Allerdings: Das braucht Übung, wie beim Sport.
Manchmal gelingt es nicht allein. Dann kann ein Sparringspartner hilfreich sein - ein Freund oder eine Freundin oder auch der Hausarzt oder die Hausärztin, die Unterstützung vermitteln können. Auch die Sozialberatung kann eine Anlaufstelle sein.
Womit fängt am besten an, wenn man sich einsam fühlt?
Bestehende Kontakte zu aktivieren ist einfacher, als neue aufzubauen.
Am besten erst einmal eine Bestandsaufnahme machen: Welche Kontakte habe ich überhaupt noch? Es ist viel einfacher, bestehende Kontakte zu reaktivieren als neue aufzubauen. Ganz praktisch kann man seine Kontakte im Telefonbuch durchschauen: Mit wem habe ich mich gut verstanden? Und dann wieder Kontakt aufnehmen.
Hilfe per Chat
Oder Telefonhotlines anrufen, die auf soziale Beratung und Einsamkeit spezialisiert sind. Eine ganze Reihe solcher Hotlines für alle Altersgruppen findet man auf den Seiten des Kompetenznetz Einsamkeit. Dann durchsprechen: Woran liegt es, dass man sich einsam fühlt? Welche Aspekte möchte man verbessern? Was möchte man - einen Partner oder eine Partnerin finden, freundschaftliche Kontakte oder einfach nur mehr Gesprächsmöglichkeiten?
Wir sind so sehr auf der Suche nach dem großen Glück, dass wir die schönen kleinen Momente übersehen.
Und dann: Herauskommen aus dem stark negativen Denken im Alltag. Dazu empfehle ich gern eine praktische Übung. Am Morgen steckt man sich ein paar trockene Erbsen oder Murmeln in die rechte Hosentasche. Und immer, wenn man sich im Laufe des Tages gefreut hat - über ein Lächeln, den Sonnenschein, ein nettes Wort von jemandem oder etwas, das einem geglückt ist - lässt man eine Erbse aus der rechten in die linke Tasche wandern. Am Ende zählt man, wie viele schöne Momente man erlebt hat. Wir sind so sehr auf der Suche nach dem großen Glück, dass wir die schönen kleinen Momente übersehen. Diese Übung hilft, das zu ändern.