"Patientensicherheit geht alle an": ein Gespräch mit dem Direktor der Stiftung für Patientensicherheit in Zürich
Der wissenschaftliche Blick auf das Thema kann die Patientensicherheit verbessern, indem Fehlerquellen genau unter die Lupe genommen und daraus konkrete Handlungsempfehlungen für die Praxis entwickelt werden. Prof. Dr. David Schwappach, der die "Stiftung Patientensicherheit" in der Schweiz leitet, stellt internationale Kooperationsprojekte - auch mit der TK - vor.
Herr Prof. Dr. Schwappach, was genau sind die Aufgaben der Stiftung für Patientensicherheit?
Unsere zentrale Aufgabe ist es, die Patientensicherheit in der Schweiz zu verbessern. Als Kompetenzzentrum sind unsere Expertinnen und Experten wichtige Ansprechpersonen für verschiedenste Akteure im Gesundheitswesen. Wir forschen zu Sicherheitsrisiken, entwickeln geeignete Maßnahmen, führen Schulungen durch und bieten spezialisierte Aus- und Weiterbildungen an. Wir initiieren Projekte sowie Programme - vor allem in der Schweiz -, stellen Kontakte her und bauen aktiv ein starkes Netzwerk zum Thema auf.
Welche Anlässe führten zur Gründung der Stiftung?
Es waren zwei folgenschwere Fehler, die kurz nacheinander in schweizerischen Spitälern passierten: Bei einer Beinamputation wurde das falsche Bein abgenommen und ein Patient verstarb infolge einer fatalen Medikamentenverwechslung. Beides waren vermeidbare Ereignisse. 2001 wurde eine nationale Task Force gebildet, die schnell erkannte: Patientensicherheit zu verbessern, ist eine komplexe und vor allem dauerhafte Aufgabe. 2003 wurde dann die Stiftung für Patientensicherheit ins Leben gerufen.
Was sind aus Ihrer Sicht die größten und die häufigsten Gefahren für Patientinnen und Patienten während einer medizinischen Behandlung?
Infektionen und unerwünschte Arzneimittel-Ereignisse kommen am häufigsten vor. Zum Glück sind die Folgen in der Regel beherrschbar und hinterlassen selten einen dauerhaften Schaden. Bei Stürzen ist die Bandbreite der Folgen sehr groß: Die meisten bleiben folgenlos, in seltenen Fällen kann ein Sturz beispielsweise ein Schädel-Hirn-Trauma auslösen.
Selten, dafür aber oft leider folgenschwerer, verlaufen Verwechslungen, also wenn zum Beispiel der falsche Patient oder die falsche Patientin behandelt oder die falsche Seite operiert wird. Auch wenn Patientinnen und Patienten zwar das korrekte Medikament erhalten, es aber falsch appliziert wird, kann das fatale Folgen haben, also wenn es zum Beispiel in die Vene gespritzt statt oral verabreicht wird.
Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede bezüglich der Fehlerquellen bestehen zwischen der stationären und der ambulanten Versorgung?
Mangelnde Kommunikation und Fehler rund um die Verordnung und Gabe von Medikamenten kommen in beiden Sektoren vor. Im Krankenhaus werden zumeist sehr viel kränkere und somit auch verletzlichere Patientinnen und Patienten versorgt. Auch die Medizin ist im stationären Bereich häufig invasiver und die Verweildauer ist hier länger als in einer Praxis. Daraus ergeben sich natürlich mehr Anlässe für unerwünschte Ereignisse. Dafür ist es im Krankenhaus oft einfacher, alle Informationen über die Patientinnen und Patienten abzufragen und einzusehen. Im ambulanten Sektor gestaltet es sich viel aufwendiger, alle relevanten Informationen zusammenzutragen.
Sehen Sie im ambulanten Sektor Nachholbedarf, was die Maßnahmen für mehr Patientensicherheit betrifft?
Ja, denn die Kliniken hatten etwa zwei Jahrzehnte Zeit, ein klinisches Risikomanagement zu etablieren. Krankenhäuser können diese Aufgabe zudem personell leichter umsetzen. Für kleinere Einheiten wie Praxen ist diese Zusatzaufgabe kaum zu leisten. Die größte Herausforderung ist es, alle Berufsgruppen ins Boot zu holen, denn jede Position von der Leitung bis zur Hilfskraft ist relevant.
Auch die Hierarchie-Konstellation in der Praxis ist anders als im Krankenhaus: In jeder Berufsgruppe gibt es weniger Kolleginnen und Kollegen und somit auch weniger Austauschmöglichkeiten. Praxen können deshalb im Verbund, eventuell unterstützt durch Fachgesellschaften oder die Kassenärztliche Vereinigung, viel effektiver Maßnahmen für die Patientensicherheit erarbeiten. So wird die einzelne Praxis entlastet und kann auf bereits erprobte Modelle zurückgreifen.
Gibt es Best-Practice-Beispiele für gelungene Risikominimierung?
Ein Meilenstein ist die Checkliste für die Chirurgie. Dazu versammeln sich alle beteiligten Berufsgruppen zu Beginn einer Operation um den OP-Tisch und rekapitulieren, worum es aktuell geht. Dazu muss im Vorfeld der gesamte Versorgungsprozess beschrieben werden, also welche Maßnahmen vor der OP notwendig sind, worauf während der OP geachtet werden und was im Anschluss passieren muss.
Ebenfalls ein gutes Beispiel: Inzwischen sind sich alle Fachkräfte einig, dass Patientinnen und Patienten, die mehrere Medikamente einnehmen, eine aktuelle und detaillierte Medikationsliste benötigen. Mehrfach erkrankte Patientinnen und Patienten erhalten zum Teil mehr als zehn Medikamente, deren Zusammenstellung sich zudem häufig ändert oder deren Verabreichung komplex ist.
Die Anamnese und das Management eines solchen Medikamentenplans sind durchaus anspruchsvoll und kosten Zeit, denn welche Informationen relevant sind, muss oft individuell entschieden werden. Leider zählt das noch immer nicht zu den medizinischen Leistungen und fällt oft in eine Lücke. Hier entstehen zwar inzwischen neue Berufe wie Case-Manager oder Advanced-Practice-Nurses, aber da stehen wir noch ganz am Anfang. Wir testen gerade in einem Projekt, welche bestehenden Berufsgruppen diese wichtige Aufgabe übernehmen könnten. Dabei ist es auch wichtig zu definieren, wann beispielsweise Pharma-Assistentinnen oder Assistenten den Check durchführen können und in welchen Fällen etwa eine ärztliche Abklärung unersetzbar ist.
Ihre Stiftung beteiligt sich auch außerhalb der Schweiz an Projekten. Erkennen Sie nationale Unterschiede im Umgang mit Fehlerkultur?
Ja, dafür spielen vor allem die Rahmenbedingungen eine Rolle. In Deutschland sind die Hierarchien stärker ausgeprägt als in der Schweiz, das macht manches schwieriger. Auch die Reglementierungen sind stärker. Dafür sind in Deutschland Fehlermeldesysteme wie das Critical Incident Reporting System (CIRS) geschützt: Meldungen können juristisch nicht gegen Meldende verwendet werden. In der Schweiz dagegen kann eine Fehlermeldung noch immer zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen. Das hemmt natürlich enorm, eigene Fehler einzugestehen.
Was verbirgt sich hinter dem Modell "Lernen aus Fehlern"?
Wir versuchen herauszufinden, wieso etwas Millionen Mal richtig ging, aber in einer Situation falsch lief. Es hilft ja wenig, immer nur zu fordern, dass die Aufmerksamkeit der Mitarbeitenden erhöht werden muss. Zielführender ist es, genau zu identifizieren, welche Rahmenbedingungen zu dem Fehlverhalten geführt haben.
Unser Ziel ist es, wo immer möglich einen doppelten Boden zu installieren. Dafür sind manchmal ungewöhnliche Schritte nötig, wie in diesem Beispiel: Bei einer Medikamentenverwechslung durch einen Anästhesisten stellte sich heraus, dass die Verpackungen der beiden Präparate täuschend ähnlich aussahen. Also haben wir mit beiden Pharmaunternehmen Kontakt aufgenommen, damit die Verpackungen zukünftig auch optisch deutlicher differenziert werden. Das klingt einfach, ist aber in der Praxis aufwendig und langwierig.
Die Stiftung für Patientensicherheit hat 2019 zusammen mit 14 Spitälern der Schweiz verschiedene Szenarien für das Simulationstraining "Room of Horrors" erarbeitet. Was ist das?
Der "Room of Horrors" ist bisher unser erfolgreichstes Tool in der Schulung und Prävention. In einem Patientenzimmer im Krankenhaus oder im Pflegeheim werden verschiedene vermeidbare Fehler versteckt. Die Teilnehmenden begeben sich einzeln oder in interprofessionellen Teams auf die Suche danach.
Die spielerische Herangehensweise eröffnet Raum für sehr konstruktive Diskussionen zwischen den Berufsgruppen. Denn in dieser simulierten Situation geht es nicht darum, Schuldige zu identifizieren, sondern kreative Lösungsansätze zu finden. Zudem kann ein Szenario sehr einfach vor Ort installiert und in kurzer Zeit durchgeführt werden. Daher ist es selbst für kleine Arztpraxen geeignet. Interessierte können sich auf der Website der Stiftung die von uns entworfenen und getesteten Szenarien herunterladen und selbstständig in ihren eigenen Behandlungsräumen installieren. Wir erhalten viele begeisterte Rückmeldungen und sogar Anregungen für weitere Szenarien.
Eine andere wichtige Komponente, die Patientensicherheit verbessert, ist das sogenannte Speak-up. Wie kann das etabliert werden?
Für mich gibt es nichts Schlimmeres, als wenn ein Fehler passiert und jemand, der ihn bemerkt, schweigt - oder er wird ignoriert, obwohl er Bedenken äußert. Hier müssen wir zu einer neuen Fehlerkultur kommen und Fehler mithilfe von " Speak-up " benennen. An dieser Stelle können unter anderem Kommunikationstrainings helfen, Hemmungen zu überwinden und den richtigen Ton zu treffen.
Aktuell begleiten Sie den TK-Monitor wissenschaftlich. Was war die Motivation für die Zusammenarbeit?
Die Zusammenarbeit entstand über unser gemeinsames Engagement im Aktionsbündnis Patientensicherheit. Außerdem ist ein Schwerpunkt meiner Forschung, auszuloten, welchen Beitrag Versicherte sowie Patientinnen und Patienten selbst zum Thema Patientensicherheit leisten können. Das wichtigste Ergebnis der Befragung ist, dass ein Großteil davon ausgeht, dass es in der medizinischen Versorgung regelmäßig zu Fehlern kommt. Diese Erkenntnis holt das Thema endgültig aus der Tabuzone.
Krankenkassen stehen als Kostenträger zwischen Leistungserbringer und Leistungsnehmer und können aktiv in beide Richtungen Impulse setzen. Wenn Sie Patientenschutz vorantreiben, können Sie gleichzeitig Kosten einsparen. Hier ist die TK in Deutschland wirklich ein Vorreiter und es erstaunt mich oft, dass andere Krankenkassen keine aktivere Rolle einnehmen.
Wie wichtig ist Zusammenarbeit für Ihre Arbeit?
Patientenschutz kann nur gemeinsam verbessert werden. Berufsverbände aller beteiligten Professionen wie Ärzteschaft, Pflege oder Physiotherapie müssen gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Politik und Verwaltung tragfähige Lösungen entwickeln. Das ist oft mühsam. Hier kann die Schweiz vielleicht als Vorbild dienen. Da das Land so klein ist, gehen viele respektvoller miteinander um, denn die Chance, in veränderter Konstellation wieder aufeinanderzutreffen, ist schon sehr groß.
Wichtig ist der direkte Kontakt mit den Mitarbeitenden in der medizinischen Versorgung. Hier treffen wir als beratende Expertinnen und Experten auf viel Offenheit und erhalten tiefe Einblicke in die Versorgungsrealität. Anders ausgedrückt: Wer live miterleben darf, unter welchen schwierigen Bedingungen die tägliche medizinische Versorgung geleistet wird, entwickelt Respekt und Demut vor diesen Aufgaben. Unser Verständnis und das gegenseitige Vertrauen sind eine gute Basis für einen zielführenden Austausch.
Werfen wir zum Schluss noch einen Blick in die Zukunft: Welche Themen stehen zurzeit besonders im Fokus?
Erstens die Digitalisierung, die insgesamt positiv bewertet wird. In einer neuen Studie konnten wir nachweisen, dass zum Beispiel die elektronische Patientenakte (ePA) noch sehr fehleranfällig ist. Wenn Sie zum Beispiel versuchen, dort eine komplexe Verordnung einzutragen, stoßen Sie auf viele Hindernisse, denn die starren Formularfelder sind dafür nicht ausgelegt. Da gibt es enorm viel Entwicklungsbedarf - auch was notwendige Kontrollmechanismen angeht.
Das zweite Thema betrifft die Verlagerung komplexer medizinischer Behandlungen in den ambulanten Bereich. Im stationären Sektor sind etliche Sicherheitsnetze implementiert, um Risiken zu minimieren. Doch genau die fehlen noch in der ambulanten Versorgung. Beispiel Krebstherapie: Bevor Sie im Krankenhaus eine Chemotherapie erhalten, werden Ihre Verordnung und auch die Verabreichung mehrfach durch verschiedene Berufsgruppen überprüft - etwa von Ärztinnen, Apothekern und den Pflegenden. Heute werden manche Patientinnen und Patienten mit einem Korb voll Tabletten entlassen und sollen diese zu Hause eigenständig korrekt einnehmen.
Auch bei ambulanten Operationen müssten wir in jedem einzelnen Fall sicherstellen, dass beispielsweise Verbände regelmäßig gewechselt und Patientinnen und Patienten mit Essen versorgt werden oder eine Frühmobilisation durchgeführt wird.
Diese beiden großen Trends im Gesundheitswesen müssen wir gut im Auge behalten, auf Sicherheitsrisiken deutlich hinweisen und frühzeitig praktikable Lösungen erarbeiten. Auch wenn das oft für die Betroffenen unangenehm ist und zusätzliche Kosten verursacht - auf lange Sicht können wir es uns einfach nicht erlauben, hier untätig zu bleiben.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was stünde ganz oben auf Ihrer Liste?
Ich wünsche mir, dass dem Thema Patientensicherheit zukünftig insgesamt mehr Priorität zugesprochen wird. Wenn wir zum Beispiel neue Medikamente entwickeln, benötigen wir parallel Prozesse, die deren Anwendung sicher machen.
Patientensicherheit geht alle an, denn es kann jeden betreffen - ganz gleich, ob wir selbst einen Fehler begehen, ihn beobachten oder durch einen Fehler Dritter zu Schaden kommen. Daher plädiere ich dafür, dass jede und jeder Einzelne, jedes Unternehmen und jede Institution im Gesundheitswesen proaktiv einen Beitrag dazu leisten sollte.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Dr. Schwappach.