Ein Gespräch über wirksame Suchtprävention, die Freude macht und dem Klassenklima hilft
Interview aus Thüringen
Seit etwa 30 Jahren beschäftigt sich die Jenaer Psychologin Karina Weichold damit, wie Kinder und Jugendliche vom Drogenmissbrauch abgehalten werden können. Aus diesem Wissen hat die Professorin ein in Deutschland einmaliges Präventionsprogramm für Kinder und Jugendliche entwickelt.
IPSY, das steht für "Information plus psychosoziale Kompetenz ist gleich Schutz", wurde über zehn Jahre entwickelt, evaluiert und immer wieder verbessert.
Nach der erfolgreichen dreijährigen Pilotphase in Thüringen können sich seit Juni 2018 Pädagoginnen und Pädagogen aus dem gesamten Bundesgebiet schulen lassen und das Programm als Vermittelnde in die Schulen tragen .
Die TK unterstützt das Programm zur Gesundheitsförderung an Schulen .
Im Interview spricht Prof. Dr. Karina Weichold über starke Persönlichkeiten und erklärt, wie sinnvolle Präventionsangebote gefunden werden können.
TK: Frau Weichold, wie funktioniert Ihr Suchtpräventionsprogramm? Was macht es so besonders?
Karina Weichold: Suchtprävention wird häufig darauf reduziert, über Rauschmittel aufzuklären und vor Gefahren zu warnen. Die eigentliche Ursache für Drogenkonsum berühren sie höchstens am Rande. Mit IPSY können Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern das Rüstzeug geben, um "Nein" zu Drogen zu sagen und auch sonst gefestigt durchs Leben zu gehen und Herausforderungen des täglichen Lebens besser meistern zu können.
Mit IPSY können Lehrerinnen und Lehrer ihren Schülerinnen und Schülern das Rüstzeug geben, um 'Nein' zu Drogen zu sagen.
Nach unserer Weiterbildung und mithilfe eines Manuals können die geschulten Pädagoginnen und Pädagogen die Trainings in den Klassen selbst durchführen. Sie bekommen einen ganz neuen Zugang zu den Kindern und Jugendlichen, weil sie mit ihnen interaktiv arbeiten und sich Schülerinnen, Schüler, Lehrerinnen und Lehrer zum Beispiel während verschiedener Rollenspiele auf einer anderen Ebene kennenlernen, als das sonst der Schulbetrieb zulässt. Fähigkeiten wie das Treffen informierter Entscheidungen, Selbstsicherheit und Kommunikation werden systematisch und langfristig aufgebaut und positiv bekräftigt.
Unsere Langzeitstudien belegen, dass Schülerinnen und Schüler, die am IPSY-Programm teilgenommen haben, signifikant weniger zu Alkohol, Zigaretten und illegalen Drogen greifen als andere.
Echte Erfolgskontrolle ist leider auch noch eine Besonderheit bei Suchtpräventionsprogrammen.
TK: Was haben Sie aus der dreijährigen IPSY-Pilotphase in Thüringen mitgenommen?
Weichold: Wir sind sehr zufrieden mit den Erfahrungen, die wir in dieser Zeit gemacht haben. Für mich ist IPSY ein wunderbares Beispiel, wie die breite Allgemeinheit von einem in der Wissenschaft entwickelten, evaluierten und etablierten Programm profitieren kann. Die systematische Verbreitung von erfolgreich getesteten Programmen in der Praxis ist ein Schritt, den gewöhnlich Programmentwicklerinnen und -entwickler an wissenschaftlichen Forschungsinstituten recht selten gehen.
Dass dies ein wichtiger Schritt ist, haben wir durch unglaublich viele positive Rückmeldungen erfahren - aus der Wissenschaft und aus der Praxis, allen voran aber von den Schulungsteilnehmerinnen und -teilnehmern.
Wir konnten das IPSY-Programm in Thüringen tatsächlich in die Breite bringen. Institutionen wie Jugend- und Schulämter empfehlen es. Und das Wichtigste: Wir konnten damals schon etwa 230 Pädagoginnen und Pädagogen schulen, die das IPSY-Programm in ihren Klassen durchführen.
Inzwischen sind es sogar schon 485 Teilnehmende aus 214 Sekundarschulen. Damit haben wir fast die Hälfte der Sekundarschulen im Freistaat erreichen können.
Die geografische Verteilung der von den Schulen entsendeten Personen zeigt, dass IPSY sich auch tatsächlich in die Fläche verbreitet hat und nicht an der typischen Jena-Weimar-Erfurt-Achse blieb. Das ist ein sehr schöner Erfolg.
Der Erfolg des Projekts in diesen drei Jahren hat nicht nur die Ausweitung des Projekts auf die anderen Bundesländer ermöglicht. Die Erkenntnisse aus der Zeit haben auch zur Verbesserung unseres Angebotes beigetragen: Zum Beispiel konnten wir unser Schulungskonzept stärker auf die Bedürfnisse der zukünftigen Durchführenden zuschneiden und die interessierten Schulen jetzt noch besser bei der Umsetzung von IPSY unterstützen.
TK: Wie entwickelt sich die bundesweite Verbreitung?
Weichold: Durch die Unterstützung der Techniker Krankenkasse können wir seit 2018 die Schulungen für die Pädagoginnen und Pädagogen und das Material kostenlos in ganz Deutschland anbieten. Seit unserer ersten Schulung außerhalb Thüringens im Juni 2018 in Trier ist das Interesse nach wie vor sehr groß.
Besonders viele Schulen konnten wir neben Thüringen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz erreichen, aber auch aus fast allen anderen Bundesländern erreichen uns inzwischen Anfragen.
Insgesamt haben wir inzwischen bereits über 1500 Lehr- und andere pädagogische Fachkräfte von 770 Sekundarschulen im gesamten Bundesgebiet erreicht. Um exakt zu sein: In Berlin und Brandenburg sind es Grundschulen, die dort bis Klassenstufe sechs gehen.
Natürlich planen wir immer wieder Schulungen, um dem anhaltenden Interesse auch gerecht werden zu können.
TK : Wie hat sich das Pandemiegeschehen auf das Projekt ausgewirkt?
Weichold: Zum einen war die Umsetzung von IPSY in der Schule durch die langen Phasen von Distanz- und Wechselunterricht nur schwer möglich. Zum anderen mussten wir viele der bereits geplanten Schulungen absagen oder auf später verschieben.
Wir haben dann ein sehr gut funktionierendes Konzept für Online-Schulungen entwickelt, die so gut angenommen werden, dass wir sie wahrscheinlich auch weiterhin einige Male im Jahr anbieten werden.
Das Interesse an IPSY scheint aktuell sogar noch größer zu sein als vor der Pandemie.
Das Interesse an IPSY scheint aktuell sogar noch größer zu sein als vor der Pandemie. Viele Schulen sehen nach eigener Aussage in IPSY die Möglichkeit, sowohl die einzelnen Schülerinnen und Schüler als auch das Miteinander in der Klasse nach dieser herausfordernden Zeit zu stärken.
Eventuell gibt es sogar einen Trend dahingehend, dass immer mehr Schulen nicht nur die akademischen Lernfortschritte, sondern auch die Förderung jener Kompetenzen im Blick haben, die Kinder und Jugendliche befähigen, angemessen mit den alterstypischen Herausforderungen und Aufgaben des täglichen Lebens umgehen zu können.
Solche Lebenskompetenzen können als Werkzeuge verstanden werden, mit denen Heranwachsende für die Bewältigung aktueller und zukünftiger Problemlagen gewappnet sind.
Aus der Forschung wissen wir aber ohnehin, dass es einen Zusammenhang zwischen beidem gibt: Jugendliche, die gut mit Herausforderungen umgehen können und gut mit ihren Klassenkameradinnen und -kameraden auskommen, können sich besser auf die Schule konzentrieren und zeigen dort auch bessere Leistungen.
TK: Was war beziehungsweise ist Ihr Erfolgsgeheimnis?
Weichold: Die erfolgreiche Verbreitung ist das Ergebnis von viel Arbeit und kontinuierlichem Werben. Wir hatten zum Start in Thüringen alle Sekundarschulen angeschrieben und ihnen das Programm angeboten und danach immer wieder nach gefasst.
Um das Projekt auch deutschlandweit bekannt zu machen, habe ich Vorträge gehalten und mit übergeordneten Stellen gesprochen.
Auch meine beiden Projektmitarbeiterinnen Frau Dr. Blumenthal und Frau Kilian sind mit verschiedenen Akteuren der Suchtprävention und Lehrkräftebildung in den jeweiligen Regionen beziehungsweise Bundesländern in Kontakt getreten. Zudem tragen die Präventionsberaterinnen und -berater der TK IPSY in ihre Netzwerke.
Wichtig ist aus unserer Sicht auch die persönliche Beziehung zu den Programmdurchführenden, die wir während der Schulungen und durch unsere Unterstützung per E-Mail, Telefon und manchmal sogar vor Ort aufbauen können.
Nach dem ersten Schwung an Teilnehmenden in den verschiedenen Regionen sind auch immer wieder deren Multiplikatoreneffekte spürbar. Die Lehr- und anderen pädagogischen Fachkräfte haben sich untereinander von IPSY erzählt. In den Feedbackbögen bekommen wir bescheinigt, dass so gut wie alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer uns und das Projekt weiterempfehlen würden.
Dass wir mit dem Programm für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer spürbare und messbare Ergebnisse erzielen, liegt an der fundierten wissenschaftlichen Basis. Wir haben IPSY über viele Jahre immer weiterentwickelt und langfristig evaluiert, bevor wir das Manual dazu veröffentlicht haben und in die Verbreitung gegangen sind.
Das Programm ist so angelegt, dass die Lehrenden es langfristig umsetzen und gelernte Kompetenzen bei den Schülerinnen und Schülern nicht nur systematisch positiv bekräftigen, sondern auch mehrfach über Jahre auffrischen. Das ist ein großer Unterschied etwa zu Einmal-Aktionen, bei denen Schülerinnen und Schüler von Expertinnen oder Experten vor den Gefahren von Drogen gewarnt werden.
TK: Heißt das, Sie blicken auch kritisch auf andere Suchtpräventionsprogramme?
Weichold: Ich finde es prinzipiell gut, wenn viele Menschen sich mit dem Thema Suchtprävention beschäftigen. Es ist ein unglaublich wichtiges Thema!
Gleichzeitig ist es so, dass Schulen, Kommunen, eigentlich wir alle, immer weniger finanzielle und auch zeitliche Ressourcen haben. Wir müssen uns also zwischen all den Präventionsangeboten entscheiden. Man fragt sich, wieso dann nicht das gemacht wird, das nachweislich wirksam ist?
Vielleicht, weil die Entscheidung keine leichte ist.
TK: Woran erkennt denn zum Beispiel eine Kommune bzw. eine Schulleiterin oder ein Schulleiter, für welche Programme sich die Investitionen lohnen?
Weichold: Die Grüne Liste Prävention, eine Datenbank empfohlener Präventionsprogramme, steht im Internet allen zur Verfügung und ist leicht zu bedienen. Ein Blick auf die Seite lohnt sich in jedem Fall.
Gute Indikatoren sind außerdem: Ist das Programm aus einer wissenschaftlichen Theorie hergeleitet? Ist es interaktiv, also werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht nur beschult, sondern in Situationen gebracht, in denen sie neues Verhalten miteinander üben können? Wird das Programm von jemandem vermittelt, der selbst zum Setting, also zum Beispiel der Schule gehört? Hat es einen zeitlichen Umfang von mindestens acht bis zehn Zeitstunden? Ist es eine Einmal-Aktion, deren Wirksamkeit ich eher nicht vertrauen würde, oder ist es langfristig angelegt? Ist das Programm entwicklungsorientiert, also wird wirklich darauf geachtet, was die jeweilige Zielgruppe interessiert? Und nicht zuletzt: Gibt es empirische Studien über die Wirksamkeit?
Rechercheaufwand bei der Entscheidung für oder gegen ein Präventionsprogramm lohnt sich immer.
Natürlich müssen hin und wieder Abstriche gemacht werden, schlicht, weil nicht in jedem Bereich wirklich gute Programme verfügbar sind. Aber der Aufwand einer Recherche bei der Entscheidung für oder gegen ein Programm lohnt sich immer. Eigentlich haben wir alle Informationen, die wir brauchen. Wir müssen sie nur sinnvoll nutzen.
TK: Was treibt Sie in den vielen Jahren als Forscherin immer wieder an?
Weichold: Ganz besonders ist das die Supervision vor Ort, also wenn ich sehe, wie Kinder zusammen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern im Rahmen des IPSY-Programms gemeinsam auf eine besondere Art und Weise lernen und dabei auch noch Freude haben.
Natürlich motiviert es mich auch sehr, wenn die Pädagoginnen und Pädagogen am Ende der Schulungen die Anwenderfreundlichkeit und Lebensnähe von IPSY loben und nach eigenen Angaben "am liebsten sofort am nächsten Tag" mit ihrer Klasse beginnen möchten.
Für mich ist es eine unglaubliche Bereicherung, nicht nur im Elfenbeinturm Wissenschaft zu bleiben, sondern den praktischen Nutzen meiner Arbeit zu sehen.
Zur Person
Karina Weichold ist apl. Professorin am Institut für Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet den Arbeitsbereich "Jugendforschung". Im September 2023 wurde sie zur Vizepräsidentin der Universität Jena gewählt. Außerdem verantwortet die Psychologin die bundesweite Verbreitung des Präventionsprogramms IPSY.