Der Fachkräftemangel in Deutschland wird sich in den kommenden Jahren zunehmend verschärfen. Um drohende Personallücken möglichst gering zu halten, ist ein möglicher Ansatz, dass die sogenannten Babyboomer länger arbeiten. In diesem Zusammenhang wird häufig die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters politisch diskutiert. In einem Interview für TK spezial sprachen wir mit Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Herrn Professor Dr. Sell über solche Maßnahmen und deren Potenzial für die Stabilität der Sozialversicherung. Sell lehrt Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz, Campus Remagen.

TK: Herr Professor Doktor Sell, viele Jahre galt die Deutsche Rentenversicherung als Erfolgsgeschichte. Nun droht der Generationenvertrag zu einem Generationskonflikt zu werden. Wie sehen Sie das?
 
Prof. Dr. Stefan Sell: Ich würde erst einmal vor diesen seit langer Zeit immer wieder vorgetragenen negativen, zuweilen apokalyptisch daherkommenden Vereinfachungen einer grundsätzlich natürlich herausfordernden gesellschaftlichen Fundamentalentwicklung, die mit dem demografischen Wandel einhergeht, ausdrücklich warnen. Dahinter stehen oftmals ganz anders gelagerte Instrumentalisierungen, um über das Narrativ einer unaufhaltsam erscheinenden Entwicklung ganz handfeste sozialpolitische Maßnahmen wie beispielsweise eine als alternativlos in den Raum gestellte Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters, um nur ein Beispiel zu nennen, legitimieren zu können. Die Rentenversicherung funktioniert immer noch entgegen aller Prognosen und Menetekel, die schon vor vielen Jahren an die Wand geworfen wurden. 

Prof. Dr. Stefan Sell

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Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler

Die gesetzliche Rente wird jeden Monat für über 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner zuverlässig ausgezahlt, und die Beitragsbelastung der Versicherten war schon mal deutlich höher als heute, was viele vergessen haben. Ich will nicht die zunehmenden Spannungen in den bestehenden Systemen leugnen oder kleinreden, aber der Generationenvertrag funktioniert weiter, auch weil es keine Alternative zu der damit verbundenen Umverteilung zwischen den Generationen gibt.

Apropos intergenerationale Umverteilung: Das Gerede von den "armen Jungen", die zunehmend unter der Versorgungslast der wachsenden Zahl an Älteren in die Knie geht: Dabei wird immer gerne vergessen, dass das keine Einbahnstraße ist, denken Sie nur an die zahlreichen Umverteilungen von den Älteren zu den Jüngeren, nicht nur hinsichtlich der Vermögensübertragungen im Erbschaftsbereich, sondern auch die zahlreichen unterstützenden Leistungen im Betreuungsbereich, die von den Älteren erbracht werden. 

Oder die Investitionen in die Bildung der nachwachsenden Generation, die neben den öffentlichen Leistungen in erheblichem Umfang in den Familien organisiert wird. Der entscheidende Punkt einer Ablehnung des Begriffs eines angeblichen Generationenkonflikts ist doch, dass es nicht um "Alt gegen Jung" geht, sondern wie in anderen existenziellen Bereichen auch um eine Differenzierung entlang der Achse "Unten versus Oben", was auf die ungleichen Lebenslagen verweist.

Und positiv formuliert wird es in Zukunft darum gehen müssen, wie es uns gelingen kann, den unabdingbaren Generationenvertrag zu stabilisieren durch neue Wege, denken Sie an die Bewältigung der enormen Aufgaben einer lebenswerten Versorgung von pflegebedürftigen Menschen vor Ort in Zeiten, in denen das niemals alleine durch professionelle Fachkräfte geleistet werden kann oder wie man im Sozialraum, also vor Ort, die Lebenslage der leider steigenden Zahl an altersarmen Menschen verbessern kann. 

TK: Die Wirtschaftsweise Professor Dr. Monika Schnitzer sprach sich unlängst für eine grundlegende Rentenreform aus, da der Bundeshaushalt schon jetzt die Rentenkasse mit 110 Milliarden Euro pro Jahr stütze: Sie fordert, die 2014 eingeführte Rente mit 63 abzuschaffen und das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Sind das auch für Sie die maßgeblichen Schritte?

Prof. Sell: Zum einen: Die angesprochenen Bundeszuschüsse an die Rentenversicherung sind überwiegend der Ausgleich "versicherungsfremder Leistungen", die nicht aus Beitragsmitteln finanziert werden sollen, deren Leistungen aber aus gesellschaftlichen Gründen als erstrebenswert gelten, wenn Sie beispielsweise an die Anrechnung von Erziehungszeiten denken. Zum anderen ist die immer wieder aufkochende Diskussion über eine schematische Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters kontraproduktiv. Dies aus mehreren Gründen. Zum einen sind wir doch mitten im Prozess einer schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, diese Altersgrenze gilt dann vollständig für den geburtenstärksten Jahrgang, den wir gehabt haben, also das Baujahr 1964. Außerdem gibt es die "Rente ab 63" doch gar nicht mehr,  diese besondere Altersgrenze wird gerade parallel zur Rente ab 67 angehoben auf 65. Und dann noch der Hinweis: Wir reden hier über Menschen, die 45 Jahre beitragspflichtig gearbeitet haben müssen, um eine abschlagsfreie Altersrente beziehen zu können - das ist eigentlich nach so einem langen Erwerbsleben mehr als selbstverständlich.

Und wir sehen in den Daten entgegen der Eindrücke, die viele aus der Berichterstattung haben, dass es einen kontinuierlichen Anstieg der Beschäftigung älterer Menschen gibt. Und eben nicht wie früher vor allem in randständigen Bereichen wie der geringfügigen Beschäftigung, also den Minijobs. Der Zuwachs ist seit geraumer Zeit vor allem bei "richtiger" (und für Beiträge wichtiger) sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu sehen. Dort hat sich beispielsweise der Anteil der über 60-Jährigen vervielfacht. Und das wächst weiter. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit hat einen Beitrag Anfang Mai 2023 so überschrieben: "Der starke Anstieg der Erwerbstätigkeit von Älteren ist ganz überwiegend dem Wachstum der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung geschuldet". Das ist eine ganz wichtige Entwicklung und auf deren Verstärkung sind wir angesichts des großen gerade beginnenden und sich noch verschärfenden Aderlasses auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der demografischen Entwicklung dringend angewiesen.

Um welche Größenordnung es hier geht: Bis zum Jahr 2035, das ist wahrlich nicht mehr lange, werden fast 13 Millionen Erwerbstätige altersbedingt den Arbeitsmarkt verlassen. Das ist der Rentenübergang der geburtenstarken Jahrgänge von Mitte der 1950er bis Ende der 1960er Jahre. Gleichzeitig kommen unten deutlich dünner besetzte Jahrgänge nach, so dass sich nach Modellrechnungen ein Defizit von gut sieben Millionen Arbeitskräften ergibt. Aber man kann und muss natürlich versuchen, diese große Lücke zumindest deutlich zu verkleinern. Dafür muss man an mehreren Stellschrauben drehen, hier denken viele an die Zuwanderung. Aber interessant ist: Berechnungen zeigen, dass der größte Effekt - 2,7 Millionen "zusätzliche" Arbeitskräfte - dann erreicht werden kann, wenn es gelingt, die Beschäftigungsquote der 60- bis 65-Jährigen auf das gleiche Niveau zu heben wie bei den 55- bis 60-Jährigen. Und wir sind langsam auf dem Weg dahin, den müssen wir vorantreiben.

Die Debatte über eine noch weitere Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters ist für das Anliegen, den seit Längerem bereits laufenden Prozess einer schrittweisen Anhebung des tatsächlichen Renteneintrittsalters zu befördern, schlichtweg kontraproduktiv. Hier geht man mit dem Rasenmäher über alle Beschäftigtengruppen, das erzeugt negative Energie und daraus resultierend Ablehnung bei den Betroffenen und letztendlich - wenn man das Rentensystem kennt - wäre das im Ergebnis nur eine (weitere) Rentenkürzung, denn das gesetzliche Renteneintrittsalter definiert ja grundsätzlich die Schwelle, ab dem Sie abschlagsfrei in den Altersrentenbezug wechseln können. Wollen oder müssen Sie vorher gehen, dann gibt es lebenslange Abschläge, die sehr schmerzhaft sein können gerade bei den vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die nur überschaubar kleine gesetzliche Renten bekommen werden. 

Es sind vor allem zwei Schneisen, die man weiter vorantreiben sollte beziehungsweise muss: Zum einen brauchen wir viel mehr positive Beispiele der Beschäftigung Älterer, die motivierend wirken können. Zum anderen ist aber auch eine Haltungsänderung in den Köpfen der Personalverantwortlichen unabdingbar: Die älteren Beschäftigten werden alleine schon angesichts des Gewichts der Baby-Boomer-Kohorten und des bei ihnen angehäuften Humankapitals als wertvolles Gut behandelt werden müssen. Und man wird den altersgerechten Umbau der Arbeitsplätze weitaus stärker vorantreiben müssen, bislang hat man darüber zwar viel gelesen, aber viele in den Unternehmen haben gehofft, dass das an ihnen vorbeigehen wird. Hier haben übrigens die Krankenkassen mit ihrer langjährigen Erfahrung in der betrieblichen Gesundheitsförderung eine zentrale Rolle, denn das, was seit Jahren dort an Wissen angesammelt wurde, werden wir dringend brauchen, um die vielen Älteren überhaupt arbeitsfähig halten zu können!

Auch wenn das dem einen oder anderen fremd sein mag - es ist schlichtweg eine Frage von Angebot und Nachfrage, dass man die Älteren als Silberschatz der Workforce betrachten und behandeln muss. Und da ist die "Rohrstock-Pädagogik", dass man im Grunde bis zum Ableben arbeiten soll, völlig fehlplatziert. Man muss sich vielmehr bemühen um die vielen Älteren.

TK: Die Forderung, das Renteneintrittsalter zu erhöhen, fußt meist auf der These, dass unser aller Lebenserwartung gestiegen sei, kann man das tatsächlich so pauschal sagen?
 
Prof. Sell: Immer wenn von "wir" gesprochen oder geschrieben wird, ist höchste Vorsicht angesagt. "Wir" werden alle älter und deshalb können "wir" doch länger erwerbsarbeiten, ist schlichtweg falsch und eine gefährliche, weil faktisch vorhandene Unterschiede nivellierende Argumentation. Die Forschungslage über die eben sehr ungleiche Verteilung der Entwicklung der Lebenserwartung ist ziemlich eindeutig: Es gibt eben gerade nicht einen generellen und alle Menschen gleich beglückenden Anstieg der Lebenserwartung. So zeigen Analysen, dass es zwischen Menschen im unteren im Vergleich zum oberen Einkommensbereich bei Männern einen Unterschied von bis zu zehn Jahren in der Lebenserwartung gibt! Und viele der Menschen, die sich im unteren Einkommensbereich durchs Leben schlagen müssen, haben oft viele Jahre unter sehr vernutzenden Bedingungen zu niedrigen Löhnen und daraus resultierend auch niedrigen Rentenansprüchen arbeiten müssen - und hier schließt sich der Kreis zur Kritik an einer schematischen Anhebung des Renteneintrittsalters: Wenn das für alle gilt, dann kann das für die vielen Menschen in den unteren Etagen zu einer doppelten Rentenkürzung führen, denn durch die vom Gesetzgeber in der Vergangenheit vorgenommenen Absenkung des Rentenwerts sind ihre kleinen Renten weniger wert als früher, und wenn sie dann auch noch länger arbeiten müssen, um abschlagsfrei in den Ruhestand zu gehen, dann werden sie auch noch mit erheblichen lebenslangen Abschlägen bei sowieso niedrigen gesetzlichen Renten konfrontiert, wenn sie es nicht durchhalten bis 68, 69 oder 70+.

Außerdem sind darunter viele Menschen, die oftmals so wenig verdient haben in ihrem Erwerbsleben, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes vom Hand und den Mund gelebt haben und kaum oder keine zusätzliche Einkommensquellen für das Alter wie beispielsweise Immobilienvermögen aufbauen konnten, was man den besser Verdienenden selbstverständlich der Fall ist, die dann auch noch von weiteren zusätzlichen Versorgungsquellen wie betrieblicher Altersvorsorge oder steuerlich geförderter privater Altersvorsorge überdurchschnittlich profitieren können. 

TK: Seit dem 1. Januar 2023 können Menschen, die Rente beziehen, so viel hinzuverdienen, wie sie möchten. Wie bewerten Sie die Aufhebung der "Hinzuverdienstgrenze"?
 
Prof. Sell: Auf der einen Seite: Super! Die älteren Semester werden sich erinnern an die Zeit, als man die Altersteilzeit eingeführt hat. Ich erinnere mich noch gut, dass es damals schon Stimmen gab, die darauf hingewiesen haben, dass es aus unterschiedlichen Gründen eine gute Sache wäre, wenn die Beschäftigten nicht zu einem bestimmten Stichtag von 100 auf 0 fallen und überhaupt nicht mehr erwerbsarbeiten, sondern dass ein fließender Übergang in die Rente mit einer Arbeitszeitreduktion und einer teilzeitigen Anwesenheit auf den bisherigen Arbeitsplätzen nicht nur für die Organisation der Weitergabe des betrieblichen Humankapitals, sondern auch für die Betroffenen aus nachgewiesen gesundheitlichen Gründen ein anzustrebender Weg sein könnte.

Was aber ist dann in den Verhandlungen über die tatsächliche Ausgestaltung der Altersteilzeit aufgrund des Drucks sowohl der Gewerkschaften wie auch der Unternehmensvertreter geworden? Man hat als Option auch das "Blockmodell" zugelassen, was ja bedeutet, dass man dann durch Vorarbeiten früher aus dem Unternehmen ausscheiden kann. Und genau dieses Modell hat sich dann flächendeckend durchgesetzt. Mit der Folge, dass die an sich mal vorhandenen guten Absichten im Sinne einer beide Seiten unterstützenden Flexibilisierung des Übergangs in die Rente pervertiert wurden nach dem Motto: Nur so schnell raus aus dem Unternehmen wie möglich.

Warum verweise ich auf diese Erfahrungen? Weil auch die nun beschlossenen Aufhebung der Hinzuverdienstgrenze, die durchaus das positive Potenzial hat, einen gleitenden Übergang zwischen Noch-Erwerbsarbeit und Schon-Rente zu befördern, eine "Schattenseite" haben kann: Wenn das wirklich in großem Umfang angenommen wird, dann wird es möglicherweise nach kurzer Zeit heißen: Ja, dann können wir auch die Regelaltersgrenze auf 70 oder 75 anheben, weil die Menschen ja noch ihren Hinzuverdienst haben. Oder aber das Rentenniveau kann weiter abgesenkt werden. Insofern könnte sich eine wirklich gut gemeinte renten- und arbeitsmarktpolitische Maßnahme als "süßes Gift" erweisen, das dann aber vor allem die Menschen mit niedrigen Einkommen (und niedrigen Renten) treffen wird, denn gehen Sie mal davon aus, dass diejenigen, die einkommens- und vermögensseitig auf der Sonnenseite leben dürfen, aufgrund der anderen materiellen Rahmenbedingungen - es sei ihnen gegönnt - weiterhin versuchen werden, "rechtzeitig" aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu können. Und schlussendlich - spätestens wenn bei den Älteren die Möglichkeit des Hinzuverdienstes, beispielsweise aus gesundheitlichen Gründen oder weil man als pflegender Angehöriger eingebunden ist, wegfällt, werden sich die enormen Sicherungslücken, die wir bei Millionen altersarmen Menschen haben, wieder in aller Schärfe zeigen.

Die an sich gute Maßnahme müsste also idealerweise kombiniert werden mit ergänzenden Unterstützungsleistungen und gezielten Verbesserungen für die einkommensschwächeren Haushalte. Und das bedeutet nicht nur ein paar Euro höhere Leistungen, sondern die brauchen ganzheitliche Unterstützung, vor allem im gesundheitlichen Bereich oder wenn sie in der Pflege und Betreuung der vielen anderen eingebunden sind. Da kommen dann wieder die Kranken- und Pflegekassen mit ins Spiel.

Zur Person

Stefan Sell lehrt Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften im Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Hochschule Koblenz, Campus Remagen. Nach einem Ausflug in die Krankenpflege-Ausbildung hat er nach seinem Studium an der Ruhr-Universität Bochum unterschiedliche berufliche Stationen absolviert, unter anderem bei der damaligen Bundesanstalt für Arbeit und als Referent für Arbeitsmarktpolitik im Bundeskanzleramt Anfang der 1990er Jahre.

Nach der Promotion ist er an die Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Mannheim als Professor für Wirtschaftswissenschaften gewechselt und Ende der 1990er Jahre dann an die Hochschule Koblenz, um dort den neuen Hochschulstandort in Remagen mit aufzubauen. Er forscht und veröffentlicht zum Arbeitsmarkt und zur Sozialpolitik. Stefan Sell betreibt darüber hinaus den Blog "Aktuelle Sozialpolitik. Aus den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik".