Wo sich ein Blick zu den Nachbarn lohnt
Interview aus Saarland
Andere Länder, andere Gesundheitssysteme. Doch was kann Deutschland von diesen lernen? Prof. Dr. Claus Wendt von der Universität Siegen ist Experte für den internationalen Vergleich von Gesundheitssystemen. Im Interview erläutert er, was in anderen Staaten besser läuft und welche Anpassungen hierzulande dringend nötig sind.
TK: Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Wendt, Sie befassen sich an ihrem Lehrstuhl für Soziologie der Gesundheit und des Gesundheitssystems an der Universität Siegen unter anderem mit den Gesundheitssystemen verschiedener Staaten. Wo steht Deutschland hier im europäischen Vergleich?
Prof. Dr. Claus Wendt: Häufig werden Rankings verwendet, um zu zeigen, ob ein Land besser oder schlechter ist als andere Länder. Mit Blick auf das Gesundheitssystem sind dann oft Länder ganz oben, in denen die Menschen eine hohe Lebenserwartung haben. Die Lebenserwartung wird jedoch von vielen weiteren Faktoren wie Ernährung und Bewegung beeinflusst, und das Gesundheitssystem ist hier nur ein Faktor neben vielen anderen.
Wo Deutschland im internationalen Vergleich steht, hängt von der jeweiligen Frage ab, die für uns wichtig ist. Wenn es um die Frage der Gleichheit geht, beispielsweise gleiche Zugangschancen für alle Bürgerinnen und Bürger, steht Deutschland nicht besonders gut da. Die Aufgliederung in Gesetzliche und Private Krankenversicherung führt zu Ungleichheit. Die Zahl an medizinisch-technischen Geräten ist in Deutschland wiederum vergleichsweise hoch. Dadurch haben Patientinnen und Patienten beispielsweise einen gute Zugang zu einer Computertomographie. Das hängt mit finanziellen Anreizen zusammen, die auch zu einer Überversorgung beitragen können. Mehr muss nicht immer besser sein.
Die Zeit, die sich Ärzte und Ärztinnen bei der Behandlung nehmen, ist so kurz wie in kaum einem anderen europäischen Land.
Aufgrund der Einzelleistungshonorierung in der ambulanten Versorgung ist in Deutschland auch die Zahl der Arzt-Patienten-Kontakte sehr hoch. Dafür ist die Zeit, die sich Ärzte und Ärztinnen bei der Behandlung nehmen, so kurz wie in kaum einem anderen europäischen Land, obwohl diese Zeit aus Sicht der Patientinnen und Patienten besonders wichtig ist. Insgesamt steht Deutschland bei der Zahl an medizinischen Leistungen vergleichsweise gut da. Sie sind jedoch nicht immer auf die Wünsche und Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten ausgerichtet.
TK: Was können wir von anderen Systemen lernen? Wo sehen Sie am meisten Handlungsbedarf?
Prof. Dr. Wendt: Wir sollten uns zunächst einmal alle darüber klar werden, dass wir vom US-amerikanischen Gesundheitssystem überhaupt nichts lernen können. In einer gesundheitlichen Krisensituation würden wir jeden Preis zahlen, um wieder gesund zu werden. Wir müssen also finanzielle Anreize so weit wie möglich vermeiden. Zum Beispiel wurde das System der Krankenhausfinanzierung über DRGs in den USA entwickelt, und heute sehen wir, dass dieses System zwar einen Anreiz für eine Verkürzung der Krankenhausverweildauer bietet, nicht jedoch für die benötigte Kontinuität der Versorgung zwischen dem Gesundheitssystem und der Pflege.
Durch die Alterung unserer Gesellschaft ist es wichtig, dass Gesundheitssystem und Pflege gut aufeinander abgestimmt sind.
Hier besteht allerdings in allen Gesundheitssystemen, auch in Deutschland, der größte Handlungsbedarf. Durch die Alterung unserer Gesellschaft ist es wichtig, dass Gesundheitssystem und Pflege gut aufeinander abgestimmt sind. Wir benötigen also Akteure oder Organisationen, die die Koordination innerhalb des Gesundheitssystems zwischen ambulanter und stationärer Versorgung und auch zwischen dem Gesundheitssystem und der Pflege übernehmen. Diese Koordination von Leistungen gelingt in Dänemark, Schweden oder in den Niederlanden sehr viel besser als in Deutschland.
TK: Haben Sie konkrete Vorschläge zur Verbesserung der aktuellen Versorgungssituation in Deutschland?
Prof. Dr. Wendt: Eine Koordination von Leistungen zur Sicherstellung einer Kontinuität der Versorgung, die den Wünschen und Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten entspricht, gelingt nur in größeren Organisationen. Das kann eine Einzelpraxis nicht leisten. Für sie ist es bereits heute schwierig, qualifiziertes Personal zu finden und dann kann nicht zusätzlich Personal eingestellt werden, um dringend erforderliche Koordinationsaufgaben zu übernehmen. Bei den europäischen Nachbarn sehen wir deshalb, dass größere Primärversorgungszentren mit mehreren Ärztinnen und Ärzten und weiterem Gesundheitspersonal aufgebaut werden, die ein breites Spektrum an ambulanten Gesundheitsleistungen und Hausbesuchen abdecken. Diese Primärversorgungszentren haben die personellen Kapazitäten, um Leistungen zwischen der ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung und der Pflege zu koordinieren.
Das hängt auch damit zusammen, dass in Ländern wie Dänemark, Schweden und den Niederlanden die Akademisierung der Pflege weit fortgeschritten ist. Viele Leistungen, die in Deutschland offiziell von Ärztinnen und Ärzten übernommen werden müssen, werden dort auf akademisch gebildete Pflegekräfte mit Zusatzqualifikationen übertragen. Diese qualifizierten Pflegekräfte übernehmen häufig Hausbesuche und tragen dadurch zu der erforderlichen engen Verbindung zwischen ambulanter Gesundheitsversorgung und Pflege bei.
Der Blick ins Ausland zeigt außerdem, dass ein hohes Niveau der Gesundheitsversorgung nur aufrechterhalten werden kann, wenn die Pflege gut organisiert ist.
Der Blick ins Ausland zeigt außerdem, dass ein hohes Niveau der Gesundheitsversorgung nur aufrechterhalten werden kann, wenn die Pflege gut organisiert ist. In den meisten Ländern gibt es einen einheitlichen Zugang, eine Telefonnummer, um den Pflegebedarf zu melden. Diese Stelle ist häufig die Kommune, die ja auch in Deutschland einen großen Teil des Pflegebedarfs abdeckt. In Dänemark ist bei der morgendlichen Dienstbesprechung im Krankenhaus immer eine Krankenpflegerin der Kommune dabei und gibt am Tag der Einweisung in ein Krankenhaus den geplanten Tag der Entlassung und den voraussichtlichen Pflegebedarf direkt an die Kommune weiter. Nur so kann in Dänemark die sehr kurze Krankenhausverweildauer gelingen, ohne dass dadurch die Versorgungsqualität sinkt.
Ein weiteres "Best Practice-Beispiel" sind neue "Hospital-at-Home"-Modelle, die wir uns in Dänemark, Schweden und Schottland angesehen haben. Diese Modelle haben zwei Ziele. Erstens, die Krankenhausvermeidung. Zweitens, die Verkürzung der Krankenhausverweildauer und die Weiterversorgung zu Hause durch ein Krankenhausteam. Solche Modelle dürften auch in Deutschland erfolgreich sein, da Krankenhauskosten durch ein Krankenhausteam, das die Patientinnen und Patienten zu Hause versorgt, gesenkt werden.
TK: Welche Rolle spielt aus ihrer Sicht die Digitalisierung in einer modernen und gut funktionierenden Gesundheitsversorgung?
Prof. Dr. Wendt: Die Digitalisierung ist extrem wichtig, um Leistungen innerhalb des Gesundheitssystems und zwischen Gesundheitssystem und Pflege gut aufeinander abzustimmen. Befragungen zeigen, dass die Patientinnen und Patienten die Digitalisierung im Gesundheitssystem sehr positiv sehen. Sie haben kein Problem mit der Digitalisierung. Ganz im Gegenteil. Die Widerstände liegen woanders. Durch die Digitalisierung werden die Selbstbestimmungsrechte von Patientinnen und Patienten gestärkt, da sie einen Zugriff auf ihre eigenen Patientendaten haben und ihre Gesundheitskompetenzen dadurch stärken können. Sie können dann auch entscheiden, wer ihre Daten einsehen darf und wer nicht.
Befragungen zeigen, dass die Patientinnen und Patienten die Digitalisierung im Gesundheitssystem sehr positiv sehen. Sie haben kein Problem mit der Digitalisierung.
Zu einer verbesserten Koordination von Leistungen und einer intensiveren Kooperation zwischen den unterschiedlichen Gesundheits- und Pflegeberufen trägt die Digitalisierung vor allem dann bei, wenn bereits eindeutige Zuständigkeiten für die Koordination von Leistungen definiert wurden. Eine reine Digitalisierung reicht für eine bessere Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung und Pflege nicht aus. Anbieter von Gesundheits- oder Pflegeleistungen, die miteinander konkurrieren, werden nicht besser zusammenarbeiten und Informationen teilen, nur weil dafür die digitalen Möglichkeiten bestehen. In einem ersten Schritt müssen bessere Kooperationsstrukturen aufgebaut und klare Zuständigkeiten definiert werden.
TK: In welchen Ländern funktioniert das schon und wer profitiert davon?
Prof. Dr. Wendt: Länder, in denen Hausärztinnen und Hausärzte seit vielen Jahren die Aufgabe haben, Informationen an weitere Leistungsanbieter weiterzuleiten und die Versorgungskontinuität sicherzustellen, sind auch Vorreiter in der Digitalisierung. Hier hat sich Vertrauen aufgebaut, dass mit den weitergeleiteten Informationen verantwortungsvoll umgegangen wird und dass dieser Prozess zur Verbesserung der Versorgungsqualität beiträgt. Alle skandinavischen Ländern haben elektronische Patientenakten, in denen alle Diagnosen, Therapien und Arzneimittel erfasst sind. Dadurch kann die Therapie im Krankenhaus sehr viel zielgerichteter erfolgen, während in Deutschland bei einer Einweisung in ein Krankenhaus zum Teil überhaupt keine Informationen zu dem jeweiligen Patienten vorliegen. In Dänemark werden bei einem Noteinsatz die Blutwerte aus dem Rettungswagen an das Krankenhaus übertragen und mit diesen Werten können zusammen mit der elektronischen Patientenakte bereits viele erforderlichen Maßnahmen vorbereitet werden, bevor der Patient die Notaufnahme erreicht. Bei einer Entlassung aus dem Krankenhaus erhalten Hausärzte oder Primärversorgungszentren über die elektronische Patientenakte die Entlassungsbriefe.
Die Vorteile sind darin zu sehen, dass der Versorgungsprozess beschleunigt werden kann und für Diagnosen und Therapien mehr Informationen hinzugezogen werden können.
Innerhalb des Gesundheitssystems werden in diesen Ländern die Information über Diagnosen und Therapien mit Hilfe der elektronischen Patientenakten bereitgestellt. Die Vorteile sind darin zu sehen, dass der Versorgungsprozess beschleunigt werden kann und für Diagnosen und Therapien mehr Informationen hinzugezogen werden können. Dadurch werden Doppeluntersuchungen wie z.B. eine Wiederholung von Röntgenuntersuchungen vermieden. Auch der Medikamentenmissbrauch kann eingedämmt werden, wenn alle verschriebenen und erhaltenen Medikamente in der elektronischen Patientenakte erfasst sind und durch das Gesundheits- und Pflegepersonal einschließlich der Apothekerinnen und Apotheker eingesehen werden können.
Zur Person
Prof. Dr. Claus Wendt hat Politische Wissenschaft, Soziologie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Heidelberg und Leicester studiert. Bereits in seiner Dissertation, die er 2003 abschloss, beschäftigte er sich mit dem Thema "Krankenversicherung oder Gesundheitsversorgung? Gesundheitssysteme im Vergleich". Seit 2009 hat er den Lehrstuhl für Soziologie der Gesundheit und des Gesundheitssystems an der Universität Siegen inne und befasst sich seitdem mit Alter und Gesundheit, Gesundheitsverhalten und mit Wohlfahrtsstaaten und Gesundheitssystemen im internationalen Vergleich.