"Die Uhr tickt immer lauter und schneller"
Interview aus Berlin/Brandenburg
Drei Fragen, drei Antworten: Martin Gersch, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin, über die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens, das Forschungsprojekt HEALTH-X dataLOFT und sein erstes Fazit zu den DiGA.
TK: Herr Prof. Dr. Gersch, die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens nimmt Fahrt auf. Wie sehen Sie dessen Zukunft - auch im Hinblick auf den Einstieg von Internetgiganten wie Google und Amazon in den Bereich Gesundheit?
Prof. Dr. Martin Gersch: Die Digitalisierung ist eine absolut notwendige Entwicklung mit vielen positiven Zukunftsversprechen einer verbesserten Versorgung. Das deutsche Gesundheitswesen hängt hier tatsächlich etwas hinterher, sowohl im internationalen Vergleich als auch in Relation zu anderen Branchen. Dort zeigen sich jetzt schon die fundamentalen Implikationen einer digitalen Plattformökonomie. Branchenexterne mit hoher installierter Basis an Nutzenden haben hier nicht nur diverse Start- und Komplementaritätsvorteile, sie adressieren auch konsequent die sich verändernden Spielregeln.
Wenn es den etablierten Akteuren im deutschen Gesundheitswesen nicht schnell gelingt, sich auf diese Entwicklung pro-aktiv einzustellen, werden künftige Angebote von außerhalb kommen. Noch ist Zeit zum Handeln, aber die Uhr tickt immer lauter und schneller.
Bei uns an der FU Berlin melden sich immer mehr internationale Start-ups, die die Chance in Deutschland nutzen wollen.
TK: Sie sind an einem der elf Gewinnerprojekte der GAIA-X-Ausschreibung des Bundeswirtschaftsministeriums beteiligt. Für welche Gebiete der Gesundheitsversorgung halten Sie europaweit nutzbare und Cloud-basierte Anwendungen am dringlichsten?
Gersch: Überall dort, wo bisher isolierte und in Silos gefangene Datenbestände im Sinne einer verbesserten Versorgung besser konsolidiert und im Sinne der Patientinnen und Patienten genutzt werden können - sei es zum Erkenntnisgewinn (Data Analytics, Public Health, Trainieren von Algorithmen), sei es für eine bessere Koordination.
Am dringlichsten ist hier die Ermöglichung integrierter Datenströme entlang der persönlichen und individuellen Versorgungsketten der zu behandelnden Personen sowie deren Konsolidierung zu rechts- und datensicheren Forschungszwecken. HEALTH-X dataLOFT wird die gemeinsame Nutzung eines föderierten Datenraums ermöglichen, bei dem die Menschen im Mittelpunkt stehen und datensouverän entscheiden, wer wofür welche Daten nutzen darf, nicht mehr internationale Plattformen mit einem Fokus auf Gewinnmaximierung.
Für Patientinnen und Patienten, Leistungserbringende, aber auch Politik und Wissenschaft ergibt sich nur so ein dringend benötigter 360-Grad Blick auf relevante Parameter für Gesundheit. Übrigens auch in dann möglichen Verbindungen zu anderen Domänen, wie zum Beispiel Mobilität oder Smart Home.
TK: Eine der großen digitalen Neuerungen unter Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sind die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA). Wie beurteilen Sie den aktuellen Stand der "Apps auf Rezept" aus Sicht eines Wissenschaftlers und Förderers von jungen Gründerinnen und Gründern im Gesundheitswesen?
Gersch: Grundsätzlich positiv! Es ist mit dem sogenannten "DiGA Fast Track" nicht nur gelungen, einen planbaren und schnelleren Weg für digitale Innovationen in den ersten deutschen Gesundheitsmarkt zu gestalten, dieser findet auch internationale Beachtung. Bei uns an der FU Berlin melden sich immer mehr internationale Start-ups, die die Chance in Deutschland nutzen wollen. In mehrerer Hinsicht können die DiGA aber nur ein erster Schritt sein, weitere müssen folgen: zum Beispiel die Ausweitung auf weitere Bereiche, wie in Form von DiPA für die Pflege.
Des Weiteren die notwendige Integration von DiGA in möglichst umfassend digital-integrierte Versorgungsprozesse aus Patientensicht - DiGA dürfen keine einsame digitale Insel für die Patientinnen und Patienten bleiben - sowie die dringend erforderliche Weiterentwicklung der Telematikinfrastruktur (TI), die ja mit der TI 2.0 zumindest schon mal angekündigt wurde.
Zur Person
Martin Gersch ist Universitätsprofessor für Betriebswirtschaftslehre am Department für Wirtschaftsinformatik des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin. Er gründete unter anderem den Digital Entrepreneurship Hub (DEH) der FU Berlin, fungiert als Principal Investigator am Einstein Center Digital Future (ECDF) und ist Gründer und Leiter des Health-X Innovation Hubs. Martin Gersch lehrt und forscht zur digitalen Transformation, unter anderem in den Bereichen Gesundheit und Mobilität, mit einem besonderen Fokus auf neuen Geschäftsmodellen, Serviceinnovationen und den Implikationen der Plattformökonomie. Daneben ist er Mentor zahlreicher wissenschaftsnaher Start-ups.