Alles neu, alles anders!?
Artikel aus Berlin/Brandenburg
Digitale Medizin braucht etablierte Qualitätskriterien: ein Gastbeitrag von Joschka Haltaufderheide und Robert Ranisch.
Während der Coronapandemie wurde das Faxgerät zum Sinnbild verfehlter Technisierung des deutschen Gesundheitswesens. Seitdem hat die Debatte um die digitale Zukunft Fahrt aufgenommen. Aus dem Schlusslicht soll ein Vorreiter in Sachen digitaler Medizin werden. Ein besonderer Stolz sind die wohl einmaligen "Apps auf Rezept", die sogenannten Digitalen Gesundheitsanwendungen, (DiGA). Neue Infrastrukturen zum Datenaustausch und zur elektronischen Patientenakte sollen folgen und Innovationen der künstlichen Intelligenz (KI) bald in der Breite der Versorgung ankommen. Der Weckruf wurde anscheinend gehört. Noch schlaftrunken vom digitalen Dämmerzustand gilt es jetzt, die Chancen der digitalen Medizin zu nutzen, ohne einem Hype zu verfallen.
Gegen den digitalen Exzeptionalismus
Die Forschung der KI oder Entwicklungen der mobilen Gesundheit versprechen regelmäßig Revolutionen: effektive Behandlungen, steigende Ressourceneffizienz, sinkende Kosten und verbesserte Patientenversorgung. Wo KI nicht sogar die Fähigkeiten von Ärztinnen und Ärzten übersteigt, soll sie diese zumindest unterstützen.
Der Weg zur schönen neuen digitalen Medizin ist aber steinig. Allzu häufig mangelt es Studien aus den Computerlaboren an methodischer Qualität. Innovationen sind zudem selten in der klinischen Praxis erprobt. Selbst vielversprechende Entwicklungen enttäuschen daher in der Versorgung. So wurden allein während der Pandemie hunderte KI-basierte Modelle entwickelt, die der Diagnose oder Prognosestellung von Infizierten dienen sollten. Einmal mehr zeigte sich hier: leider kaum zu gebrauchen.
Entscheidend ist nun, die Potenziale der digitalen Medizin ernst zu nehmen und zugleich einen kritischen Blick auf aufmerksamkeitsgenerierende Entwicklungen zu wahren. Der Rückstand der Digitalisierung sollte nicht zu Schnellschüssen verleiten, Innovationen nicht hinter etablierten Qualitätskriterien zurückstehen. Ein digitaler Exzeptionalismus kann nicht nur gefährlich für Patientinnen und Patienten sowie ineffektiv für das Gesundheitssystem sein. Er kann auch das Vertrauen in hochpotente Entwicklungen verspielen.
Aus den Fehlern der DiGA lernen
Die ersten Erfahrungen mit den DiGA machen deutlich, wo auch für die KI Fallstricke lauern. Schon bei der Einführung der DiGA zeigte sich: Der Nachweis der Wirksamkeit ist mit klassischen Verfahren schwer zu erbringen. Dem wurde durch die Möglichkeit Rechnung getragen, die Wirksamkeit durch Studien mit geringerer Qualität nachzuweisen. Eine Zulassung auf Probe erlaubt die Prüfung der Wirksamkeit - bei voller Erstattung der Kosten - "im laufenden Betrieb".
Seitdem haben etwa 164.000 Personen DiGA als Kassenleistung in Anspruch genommen. Diese Zahl umfasst sowohl die vorläufig zugelassenen Applikationen als auch solche mit endgültiger Zulassung. Insgesamt zeigt sich, das Vorgehen war keine gute Idee: Auch wenn die große Welle an Zulassungen auf Basis geringer Evidenz ausblieb, stehen der geringen Zahl an endgültig zugelassenen Produkten eine hohe Zahl gegenüber, deren Wirksamkeit mindestens unsicher ist oder deren Zulassung abgelehnt wurde. Zum Wohl von Patientinnen und Patienten ist das nicht. Die Möglichkeiten digitaler Technologien mögen außergewöhnlich sein. Sie rechtfertigen aber keine Absage an anerkannte Qualitätsstandards.
Digitalisierung ist gesellschaftlicher Wandel
Paradoxerweise wird oft übersehen, was tatsächlich exzeptionell ist: Im Kontakt mit der digitalen Welt transformieren sich die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, radikal und irreversibel. Dies gilt auch in der Medizin. Erneut lohnt sich hier ein vergleichender Blick: Ärztinnen und Ärzte nehmen eine Schlüsselrolle in der Versorgung mit den neuen digitalen Gesundheitsangeboten ein. Bei den DiGA zeigen Untersuchungen jedoch deutliche Lücken bei Wissen und Kompetenzen der Profis. Es mag hilfreich sein, wenn eine Software wie ein Medikament verschrieben werden kann. In anderen Belangen bleibt es aber eine Software und ist kaum mit der Verschreibung anderer Therapeutika vergleichbar.
Dadurch erzeugt der Kontakt mit der digitalen Welt neuartigen Beratungsbedarf, setzt andere Fähigkeiten voraus und provoziert einen Wandel im Verhältnis von Ärztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten. Diesen Unterschieden muss Rechnung getragen werden - insbesondere auch in veränderten Ausbildungsangeboten. Wie genau das neue Verhältnis von Ärztinnen, Ärzten, Patientinnen und Patienten in seiner Idealform aussehen könnte und welche Rolle Ärztinnen und Ärzte haben sollen, ist im Hinblick auf die DiGA offen geblieben. Für die Zukunft einer KI-gestützten Medizin muss es dringend geklärt werden.
Zur Person
Dr. Joschka Haltaufderheide forscht im Projekt "Digital Medical Ethics Network" (gefördert durch die Volkswagenstiftung) an der Juniorprofessur für Medizinische Ethik mit Schwerpunkt auf Digitalisierung an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften Brandenburg (FGW), der gemeinsamen Fakultät der Universität Potsdam, der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane und der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Er ist Gründer und Koordinator der Arbeitsgruppe "Gesundheit & Digitalisierung" in der Akademie für Ethik in der Medizin e. V.
Twitter: @JoschkaHalt
Zur Person
Prof. Dr. Robert Ranisch ist Leiter der Juniorprofessur für Medizinische Ethik mit Schwerpunkt auf Digitalisierung an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften Brandenburg (FGW) und Forschungsgruppenleiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen. In Forschung und Lehre widmet es sich ethischen Fragen der Medizin an den Schnittstellen zu Gesellschaft und Technologieentwicklung.
Twitter: @RobRanisch