"Der Nutzen der Digitalisierung muss überzeugen und erlebbar sein"
Interview aus Hessen
Die Digitalisierung ist Schwerpunktthema im Gutachten "Digitalisierung für Gesundheit" des Sachverständigenrats für das Gesundheitswesen. Im Interview gibt Professor Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats, einen Einblick in die geforderte Digitalstrategie.
TK: Der Sachverständigenrat Gesundheit fordert in seinem Gutachten zur Digitalisierung ein radikales Umdenken beim Thema Datenschutz. Der Rat hat in früheren Gutachten schon weniger gefordert und ist nicht gehört worden. Welche Chancen haben die Forderungen des Rates aus Ihrer Sicht dieses Mal?
Prof. Ferdinand Gerlach: Der Rat ist nach eingehender Analyse, wie übrigens auch der Deutsche Ethikrat und zahlreiche andere Experten, davon überzeugt, dass uns der in Deutschland seit den 80er Jahren praktizierte Datenschutz alter Schule mit seinem Fokus auf Datensparsamkeit und enger Zweckbindung inzwischen zum Teil mehr schadet als nutzt. Kurz gesagt ist es nicht nur unethisch, Gesundheitsdaten zu missbrauchen, es ist auch unethisch, vorhandene Daten nicht bestmöglich für Diagnostik und Therapie zu nutzen. Wie jüngst auch die Pandemie gezeigt hat, ist ein "weiter so" inzwischen unverantwortlich. Wir empfehlen daher, Datenschutz auch in Deutschland neu zu denken.
Es ist unethisch, vorhandene Daten nicht bestmöglich für Diagnostik und Therapie zu nutzen.
Es geht uns dabei nicht um weniger Datenschutz, sondern um zeitgemäße und wirksamere Lösungen mit einem Fokus auf erhöhter technischer Datensicherheit und verschärften Verbotsnormen, nicht zuletzt auch zum besseren Schutz des Arztgeheimnisses. Wir betrachten Datenschutz dabei aber nicht nur als Abwehrrecht und wollen insofern die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße stellen. Wir fordern daher, zukünftig auch das ausdrückliche Anrecht der Patientinnen und Patienten auf bestmögliche Nutzung seiner Gesundheitsdaten zu verankern.
Wir nehmen an, dass unsere Empfehlungen aktuell nicht der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung und im Parlament entsprechen, sehen uns aber dennoch dazu verpflichtet, eindringlich auf eine gezielte Weiterentwicklung zu drängen. Wie bei manch anderen Empfehlungen, bei denen der Rat seiner Zeit voraus war, gehe ich persönlich davon aus, dass es zwar etwas länger dauern könnte, wir in Deutschland aber letztlich doch den Empfehlungen des Rates und damit auch dem Vorbild vieler europäischer Nachbarländer folgen werden.
TK: Deutschland ist Weltmeister darin, den Datenschutz im Gesundheitswesen sehr restriktiv auszulegen. Gleichzeitig verwenden hierzulande viele Menschen Fitnesstracker oder Internetplattformen wie Google, Facebook, Amazon usw. und produzieren damit eine riesige Menge an sensiblen Gesundheitsdaten, die von internationalen Internetplattformen für kommerzielle Zwecke ausgewertet werden. Wie erklären Sie sich diese widersprüchliche Einstellung zum Thema Datenschutz?
Prof. Gerlach: Das ist in der Tat - auch im internationalen Vergleich - auffällig und hat wahrscheinlich auch etwas mit unserer Geschichte zu tun. Erinnerungen etwa an die Nazi-Herrschaft, staatliche Überwachung in der DDR oder Berufsverbote in der Bundesrepublik könnten hier eine Rolle spielen. Ich selbst habe früher mal die Initiative Volkszählungsboykott unterstützt. Damals waren wir der Meinung, dass der Staat noch nicht einmal wissen dürfe, wo wir wohnen. Heute weiß ich, dass das unsinnig ist und wir froh sein könnten, wenn wir statt der bereits enorm einflussreichen kommerziellen Plattformökonomie amerikanischer Prägung oder gar dem Modell chinesischer Staatskontrolle eigene, unseren Werten entsprechende, europäisch integrierte und öffentlich-rechtliche regulierte Lösungen hätten.
Der Nutzen sektor- und professionsübergreifender Gesundheitsanwendungen im Interesse des Patientenwohls würde für alle Menschen und unsere Solidargemeinschaft die Risiken um ein Vielfaches übersteigen. Die moderne Onkologie benötigt zum Beispiel zunehmend genetische und molekulare Informationen über jeden individuellen Tumor. Die erst damit mögliche patientenindividuelle Diagnostik und Therapie ist zwingend auf BigData, maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz angewiesen. Egal ob Notfalldatensatz, elektronischer Medikationsplan mit Interaktionscheck, Impfausweis mit automatischen Erinnerungen oder onkologische Präzisionsmedizin: Daten teilen heißt besser heilen. Das müssen wir geduldig, adressatengerecht und besser als bisher erklären.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen ist ein von der Bundesregierung einberufenes Gremium zur wissenschaftlichen Politikberatung im deutschen Gesundheitswesen. Der Rat publiziert meist alle zwei Jahre ein Gutachten mit Analysen und Reformvorschlägen zur gesundheitlichen Versorgung. Die Gutachten werden dem Bundesministerium für Gesundheit sowie dem Bundestag und dem Bundesrat vorgelegt. Bislang sind 20 Gutachten erschienen, aus denen die Gesundheitspolitik in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Vorschlägen und Empfehlungen aufgegriffen hat.
TK: In unserem Gesundheitssystem werden viele Gesundheitsdaten nicht systematisch erhoben und zusammengeführt, die für die Forschung und eine bessere Versorgung sinnvoll genutzt werden könnten. Wer sollte aus Ihrer Sicht Zugriff auf diese Daten bekommen und sollten auch private Unternehmen dazu zählen?
Prof. Gerlach: Auch hier ist für uns das Patientenwohl der entscheidende Maßstab und wir sind daher konsequent der Auffassung, dass die Bereitstellung von Gesundheitsdaten - etwa aus der elektronischen Patientenakte (ePA) - für gemeinwohldienliche Forschung im Rahmen einer Solidargemeinschaft sogar geboten ist. Das ist auf Basis von Artikel 9 Abs. 2 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) sogar ausdrücklich möglich und sollte auch in Deutschland, etwa in einem Gesundheitsdatennutzungsgesetz, klar geregelt werden.
Ähnlich wie das schon jetzt mit Abrechnungsdaten möglich ist, sollten Gesundheitsdaten in einem unabhängigen, streng regulierten Forschungsdatenzentrum, anonymisiert oder pseudonymisiert, treuhänderisch zusammengeführt werden können. Sogenannte "Use and Access"-Komitees sollten dann nach strengen, unter anderem ethischen und datenschutzrechtlichen Spielregeln in jedem Einzelfall entscheiden, für welche gemeinwohldienlichen Forschungszwecke, welche Daten wie verwendet werden dürfen.
Es wäre unlogisch und wohl auch unsinnig, dabei private Unternehmen von vornherein und grundsätzlich auszuschließen. Es ist ja zum Beispiel in unser aller Interesse, dass bei einer Pandemie möglichst schnell wirksame Impfstoffe oder bei zunehmend multiresistenten Keimen neue Antibiotika entwickelt werden. Ohne private Unternehmen würde das kaum gelingen und damit das Wohl vieler Patientinnen und Patienten gefährden.
In vielen Ländern ist die Nutzung von Versorgungsdaten zu Forschungszwecken bereits entsprechend geregelt. In Dänemark oder Estland sogar ganz selbstverständlich und ohne Widerspruchsrecht.
TK: Es sind nach Ihrer Umfrage bislang noch tendenziell die Jüngeren, die Gesundheits-Apps positiv bewerten und in ihrem Alltag nutzen. Wie können wir erreichen, dass sich Menschen aller Altersgruppen beispielsweise für Apps auf Rezept aber auch für weitere digitale Tools wie die Onlinesprechstunde und das eRezept oder die elektronische Patientenakte begeistern?
Prof. Gerlach: Darauf gibt es eine letztlich ganz einfache Antwort: Der Nutzen muss überzeugen und möglichst unmittelbar erlebbar sein. Niemand wird ja zum Beispiel gezwungen, sich ein Smartphone zu kaufen und dieses täglich zu nutzen. Für viele Menschen ist aber der individuelle Nutzen im Alltag offenbar so überzeugend, dass sie nicht mehr darauf verzichten können oder wollen.
Viele neu entwickelte Gesundheits-Apps und -Tools werden wohl wieder vom Markt verschwinden und nur ein kleiner Teil wird sich langfristig durchsetzen. Neben Marketing und Marktdurchdringung der Anbieter sowie bestimmten Anreizen zur Nutzung haben wohl die Anwendungen die besten Chancen, die das Leben und Arbeiten von Nutzerinnen und Nutzern - und dabei sind sowohl Versicherte wie die Angehörigen der Heilberufe gemeint - spürbar erleichtern.
Es sollte als eine kollektive Aufgabe verstanden werden, Nutzen und Risiken digitaler Anwendungen zu kommunizieren, auch wenn die Krankenkassen, die ihren Versicherten ja die elektronische Patientenakte zur Verfügung stellen und im Individualfall auch die Leistungserbringer dabei besonders gefordert sind. Aber auch Institutionen wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sind hier mehr als bisher gefragt.
TK: Muss die ärztliche Aus- und Weiterbildung hierfür komplett neu konzipiert werden? Wie kann das umgesetzt werden?
Digitalisierung ist kein Selbstzweck, aber ein sehr mächtiges Werkzeug.
Prof. Gerlach: Die Digitalisierung geht wie in vielen anderen Lebensbereichen auch in der Medizin mit zum Teil revolutionären Veränderungen einher. Dabei ist Digitalisierung kein Selbstzweck, aber ein sehr mächtiges Werkzeug. Umso mehr müssen Ärztinnen und Ärzte, aber auch alle anderen Angehörigen der Heilberufe während ihrer Aus- und Weiterbildung auf den Umgang mit diesem Werkzeug und die damit verbundenen Chancen und Grenzen vorbereitet werden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist das allerdings bisher kaum oder gar nicht der Fall. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, dass auch im Rahmen der anstehenden Veränderung der Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte, die Vermittlung digitaler Kompetenzen angemessen verankert wird. Dies gilt in ähnlicher Weise für alle Curricula in der Aus- und Weiterbildung von Gesundheitsberufen.
TK: Zum 1.1.2021 wurde die elektronische Patientenakte eingeführt. In einem Interview in der Ärzte-Zeitung sagten Sie, die Akte sei zu umständlich konstruiert und werde "im Alltag nicht fliegen". Was braucht es aus Ihrer Sicht, damit der Akte Flügel wachsen können?
Prof. Gerlach: Vereinfacht gesagt: Wir machen es mal wieder - vielleicht typisch deutsch - unnötig kompliziert und umständlich. Zur Nutzung der elektronischen Patientenakte ist ein mehrfaches Opt-in-Verfahren* - nicht nur für die Einrichtung, sondern separat bei jedem Leistungserbringer und zeitlich befristetet sowie feingranular auf Dokumentenebene - vorgesehen. Die somit wiederholt erforderlichen Zustimmungen zu Zugriffen zur Befüllung beziehungsweise Einsichtnahme sowie für erneute Zugriffe und auch für die Nutzung der Daten für Forschungszwecke werden im Alltag dazu führen, dass die ePA in der Regel unvollständig bzw. veraltet ist. Ärztinnen und Ärzte werden zu Recht sagen, dass sie sich auf eine löchrige, nicht in Echtzeit aktualisierte "digitale Einkaufstüte" nicht verlassen können und weiter auf ihre Primärsysteme setzen.
* Anmerkung der Redaktion: Auf die elektronische Patientenakte haben in Deutschland ausschließlich die Versicherten selbst Zugriff. Niemand sonst hat Einblick in die Daten. Daher muss jede Patientin und jeder Patient aktiv werden, wenn die Akte beispielsweise einer Ärztin oder einem Arzt zur Einsicht freigegeben werden soll. Diese individuelle Datenfreigabe nennt man Opt-in-Verfahren. Beim Opt-out-Verfahren müssen die Versicherten ausdrücklich widersprechen, wenn sie einen Zugriff nicht erlauben wollen.
Wir empfehlen stattdessen eine radikale Vereinfachung, wie sie auch viele andere europäische Länder bereits erfolgreich praktizieren: Grundsätzlich sollte für jede Person (mit Geburt oder Zuzug) automatisch eine ePA eingerichtet werden, auf die behandelnde Leistungserbringer zugreifen können. Ein doppeltes Opt-out-Verfahren sichert individuelle Widerspruchsmöglichkeiten: Die Akte kann zum einen jederzeit gänzlich abgelehnt werden, zum anderen gibt es die Möglichkeit, ausgewählte Inhalte zu verschatten und so für bestimmte Leistungserbringer unlesbar zu machen.
In Frankreich ist man 2006 bei Einführung einer ePA sehr ähnlich vorgegangen wie jetzt bei uns geplant. Trotz intensiver Anstrengungen hatten 2019 aber erst 20 Prozent der Zielgruppe eine ePA. Ab 2022 stellt man nunmehr auch dort vom derzeitigen Opt-in- auf ein Opt-out-Verfahren um. Wir sollten unsere digitale Rückständigkeit in Deutschland insofern positiv begreifen und andernorts gemachte Fehler nicht unnötig wiederholen.
Zur Person
Professor Dr. Ferdinand M. Gerlach hat an der Universität Göttingen Humanmedizin und an der Medizinischen Hochschule Hannover Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen studiert. In den Jahren von 1993 bis 2004 war er in Bremen und Kiel als Allgemeinarzt tätig. Von 2001 bis 2004 war er zudem Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Schleswig Holstein in Kiel. Seit August 2004 ist er Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt.
Im Jahr 2007 wurde Professor Gerlach als Mitglied in den Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen berufen. Von 2011 bis 2012 war er dessen Stellvertretender Vorsitzender, seit 2021 ist der der Vorsitzende dieses Gremiums.
Zudem arbeitet Prof. Gerlach in diversen Experten- und Gutachtergremien mit, etwa für das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin, die Bundesärztekammer, das Bundesministerium für Gesundheit, für die Bund-/Länderkommission der Gesundheitsministerkonferenz, die Kassenärztliche Bundesvereinigung sowie für verschiedene Krankenkassen bzw. Krankenkassenverbände.