Zur Sache: Neuer TK-Report "Arzneimittel-Fokus"
Interview aus Hamburg
Die Techniker Krankenkasse (TK) hat den neuen Report "Arzneimittel-Fokus - Pillen, Preise und Patente" gemeinsam mit dem aQua - Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH (aQua-Institut) erstellt und veröffentlicht.
Der Report betrachtet die Entwicklungen des Arzneimittelmarkts in den vergangenen Jahren insgesamt und wirft auch einen Blick auf die Marktstrategien der pharmazeutischen Industrie. Ein Sonderkapitel widmet sich dem Thema der Arzneimittelbehandlung bei der Erkrankung Multiple Sklerose (MS).
Maren Puttfarcken, Leiterin der TK-Landesvertretung Hamburg, gibt im Interview einen Einblick in die zentralen Ergebnisse des Reports und fordert die Politik zum Handeln auf.
TK: Der Report "Arzneimittel-Fokus - Pillen, Preisen und Patente" fokussiert sich auf das Thema der patentgeschützten Arzneimittel. Was zeigt sich da im Bereich der Kosten beziehungsweise Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV)?
Maren Puttfarcken: Insgesamt stehen die Kosten für Arzneimittel bei den bundesweiten Ausgaben der GKV an zweiter Stelle - direkt nach den Kosten für Krankenhausbehandlungen. Im Jahr 2021 hat allein die TK in Hamburg durchschnittlich 552 Euro je versicherter Person für Arzneimittel aufgewendet.
Innerhalb dieser Ausgaben stechen die für neue und patentgeschützte Arzneimittel nochmal besonders hervor. Denn für diese Gruppe haben sich die Ausgaben der GKV innerhalb von fünf Jahren fast verdoppelt. Im Jahr 2018 lagen die bundesweiten Bruttoausgaben noch bei rund 14,6 Milliarden Euro. Nur vier Jahre später, 2022, waren es bereits rund 28 Milliarden Euro - das entspricht fast der Hälfte der gesamten Arzneimittelausgaben! Gleichzeitig machen diese Medikamente den Berechnungen nach aber nur etwa sechs Prozent des gesamten Medikamentenverbrauchs aus.
Diese Entwicklung zeigt, dass die Ausgaben besonders bei patentgeschützten Arzneimitteln beinahe ungebremst steigen. Die Preise für diese Medikamente können zunächst von den Herstellern völlig frei festgesetzt werden. Dabei gibt es jedoch keine Transparenz über die Forschungs- und Herstellungskosten. In diesem Zusammenhang ist es nicht übertrieben, von den vielfach zitierten "Mondpreisen" zu sprechen. Und der Report zeigt auch, dass viel Geld für Arzneimittelinnovationen aufgewendet wird, die am Ende gar keine sind.
TK: Hat hier das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) im Jahr 2011 keine Abhilfe geschaffen?
Puttfarcken: Mit dem AMNOG wurde 2011 erstmals ein Mechanismus geschaffen, der die Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel reduzieren sollte, indem er die Innovationskraft neuer Arzneimittel bewertet. Doch wir sehen auch, dass dieser Mechanismus aktuell nicht ausreichend greift, um die Preisentwicklung zu bremsen - die Ausgaben für neue Arzneimittel steigen trotzdem immer stärker an. Da im AMNOG-Verfahren der Preis eines neuen Arzneimittels immer im Verhältnis zur sogenannten zweckmäßigen Vergleichstherapie verhandelt wird, ist häufig das Grundniveau für die Preisbildung schon zu hoch. Zusätzlich zu den Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie kommen bei der Preisbildung des neuen Arzneimittels mit einem Zusatznutzen dann ein zwischen pharmazeutischem Unternehmer und Krankenkassen zu verhandelndem Zuschlag dazu. So ist eine Spirale entstanden, welche die Preise immer weiter in die Höhe treibt.
Insgesamt machen der Patentschutz und damit die Marktexklusivität die Entwicklung neuer Arzneimittel für die pharmazeutische Industrie natürlich interessant. Der Report zeigt aber auch: Es wurden bestimmte Strategien entwickelt, um mit wenig Aufwand die Vorteile eines Patentschutzes möglichst lange aufrecht zu erhalten. Denn Fakt ist ja, dass mit Ablauf des Patentschutzes und dem Eintritt von Nachahmerpräparaten - also Generika - die pharmazeutischen Unternehmen eines Originalarzneimittels drastisch an Umsatz verlieren - also: dass die Einnahmen deutlich sinken.
TK: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Puttfarcken: Die Arzneimittelwirkstoffe sind häufig komplexe Moleküle, und ein Wirkstoff kann sich aus der Mischung von zwei Molekülen zusammensetzen. Hier werden nun kleinste Veränderungen an den Molekülen vorgenommen und dann als neue Innovation auf den Markt gebracht. Durch das so genannte "Evergreening" kann die Patentdauer eines Arzneimittels also verlängert werden - die Wirksamkeit verändert sich dadurch aber nicht wesentlich. Ein zweites Beispiel ist die Darreichungsform: Statt in die Vene wird dann beispielsweise unter die Haut gespritzt, der Wirkstoff bleibt aber gleich und die Neuerung kommt kurz vor Patentablauf auf den Markt. Auch das wird dann als Innovation verkauft. Dabei ist es in diesen Fällen nicht gerechtfertigt, von neuen Innovationen zu sprechen und entsprechend hohe Preise anzusetzen.
Insbesondere bei der Behandlung von MS finden sich einige Beispiele, etwa der Wirkstoff Rituximab. Dieser wird schon lange in der Krebs- und Rheumabehandlung verwendet und ist dafür zugelassen. Trotz vielversprechender Ergebnisse aus zwei klinischen Studien, in denen sich zeigte, dass Rituximab auch bei MS wirkte, wurden keine weiteren größeren Studien durch die Pharmaindustrie initiiert. Auch eine Zulassung für die Behandlung von MS wurde nicht beantragt. Die Gründe hierfür können wir nicht genau benennen. Aber der Patentschutz für Rituximab stand kurz vor dem Auslaufen.
Es ist gesamtgesellschaftlich unstrittig, dass Innovationen honoriert und gefördert werden müssen. Trotzdem zeigt sich, dass diese Preissteigerungen langfristig nicht vom deutschen Gesundheitssystem getragen werden können.
Nachdem der Patentschutz für Rituximab ausgelaufen war, brachte der Hersteller - mit dem Wirkstoff Ocrelizumab eine Weiterentwicklung von Rituximab zur Behandlung von MS auf den Markt. Zum Zeitpunkt der Markteinführung betrugen die Therapiekosten des marktexklusiven Arzneimittels pro Jahr mit 33.000 Euro das Elffache von Rituximab.
Ich denke, dass es gesamtgesellschaftlich unstrittig ist, dass Innovationen honoriert und gefördert werden müssen. Auch besteht Konsens darin, dass für Arzneimittel entsprechend höhere Preise berechtigt sind, wenn sie einen therapeutischen Fortschritt darstellen und ihr Zusatznutzen nachgewiesen ist. Trotzdem zeigt sich, dass diese hohen Preissteigerungen langfristig vom deutschen Gesundheitssystem nicht mehr finanziert werden können. Und angesichts des Gewinns der pharmazeutischen Industrie vor Zinsen und Steuern von bis zu mehr als 40 Prozent muss die Frage erlaubt sein, ob die aktuellen Preise in einem Solidarsystem angemessen und fair sind.
TK: Welche Weichen müssen nun gestellt werden, damit die Entwicklungen auf dem Arzneimittelmarkt in die richtige Richtung gelenkt werden?
Puttfarcken: Der Report zeigt die Strategien der pharmazeutischen Industrie und deren Folgen für die Arzneimittelpreise auf. All diese Vorgehensweisen sind legal, das steht außer Frage. Aber ob ihre Ausschöpfung aus ethischer und moralischer Sicht in unserem Solidarsystem vertretbar ist, muss man mindestens aus Sicht der Versichertengemeinschaft bezweifeln dürfen.
Wir brauchen eine sichere, rationale und finanziell nachhaltige Arzneimittelversorgung. Die Politik muss das Thema Arzneimittelpreise noch einmal ganzheitlich angehen mit dem Ziel, zu fairen Preisen und fairen Gewinnen zu kommen. Und es kann auch nicht sein, dass die Entwicklung neuer Antibiotika für die pharmazeutische Industrie kaum attraktiv ist, weil sie zu wenig Gewinn verspricht. Mit einem Gutscheinsystem möchte die Europäische Union hier neue Anreize setzen: Das Unternehmen, das ein neues Antibiotikum entwickelt hat, soll demnach einen Gutschein erhalten, mit dem es die Marktexklusivität eines anderen Arzneimittels verlängern kann. Der Ansatz ist nachvollziehbar, wird aber das Problem der "Mondpreise" und der damit verbundenen steigenden Arzneimittelkosten wahrscheinlich nicht lösen können.