Zwangsstörungen erkennen und behandeln
"Die Macht der Gewohnheit" - so lautet ein bekannter Ausdruck. Menschen mit einer Zwangsstörung leiden jedoch unter weit mehr als einer kleinen Marotte. Ihr Leben ist geprägt vom Drang, immer wieder bestimmte Handlungen auszuführen oder Gedanken zu denken, die sie nicht unterdrücken können.
Nicht jede überprüfende Handlung im Alltag - etwa das Nachkontrollieren, ob der Herd ausgeschaltet oder die Tür abgeschlossen ist - wird direkt als Zwangsstörung eingestuft. Zwangserkrankte leiden unter der Vorstellung von möglichen Folgen, wenn sie die wiederkehrenden Gedanken ignorieren oder bestimmte Handlungen nicht umsetzen. Geben sie den Zwängen nicht nach, empfinden sie stark ausgeprägte Gefühle wie Angst, Ekel oder Druck. Die ausgleichenden Rituale bringen jedoch nur für kurze Zeit Erleichterung. Eine Zwangsstörung ist für Betroffene sehr belastend: Oft sind sie sich darüber bewusst, dass diese Gedanken und Handlungen unverhältnismäßig sind, und haben zugleich das Gefühl, ihren Zwängen nicht entkommen zu können.
Bis zu drei Prozent der Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Zwangsstörung, auch Obsessive Compulsive Disorder (OCD) genannt. Erste Anzeichen dafür gibt es häufig bereits in der Kindheit, die meisten Betroffenen erkranken jedoch im Jugendalter und als junge Erwachsene. Die Ausprägung der Zwänge kann über die Jahre unterschiedlich ausfallen, wobei sie durch Stress in der Regel verstärkt werden.
Mögliche Ursachen
Expertinnen und Experten gehen aktuell davon aus, dass Zwangsstörungen durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren entstehen. Studien legen eine genetische Veranlagung nahe: In bis zu zwölf Prozent der Fälle treten Zwangsstörungen auch bei anderen Familienmitgliedern auf, noch häufiger lassen sich zumindest zwanghafte Verhaltensweisen erkennen.
Dementsprechend gilt auch die Erziehung als wahrscheinlicher Auslöser, indem stark ausgeprägte Verhaltensweisen oder Wertevorstellungen von Bezugspersonen auf Kinder übertragen werden. Auch traumatische Erfahrungen, zum Beispiel Misshandlung oder der Tod einer nahestehenden Person, können eine Zwangsstörung hervorrufen.
Formen und Symptome
Fachleute unterscheiden die Symptome von Zwangsstörungen grundsätzlich in zwei Kategorien: Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Bei den meisten Patientinnen und Patienten liegt allerdings eine Kombination aus beiden Kategorien vor, denn die zwanghaften Gedanken erfordern für gewöhnlich eine entsprechende Handlung als Ausgleich.
Die häufigsten Zwänge sind:
- Reinigungs-, Putz- und Waschzwänge
- Ordnungs- und Symmetriezwänge
- Sammelzwänge
- Zähl- und Wiederholzwänge
- Kontrollzwänge
Es gibt jedoch auch Zwangsgedanken, die keine bestimmte Handlung auslösen. Im Gegenteil: Erkrankte leiden dann unter Vorstellungen, in denen sie andere Menschen verletzen, beleidigen oder sich in anderer Weise unangemessen oder übergriffig verhalten. Bei dieser Art von Zwängen sind Betroffene extrem darauf fokussiert, dass diese ausgemalten Szenarien nicht wahr werden.
Über weitere Formen von Zwangsstörungen informiert unter anderem die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V.
Anzeichen erkennen
Zwangsstörungen entwickeln sich für gewöhnlich schleichend über einen längeren Zeitraum. Häufig ist den Betroffenen zunächst gar nicht bewusst, dass ihr Verhalten einem Zwang unterliegen könnte. Fällt es ihnen auf, empfinden die meisten große Scham und Selbstzweifel. Umso wichtiger ist es, erste Anzeichen zu erkennen und frühzeitig Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Stellen Sie folgende Gedanken- oder Verhaltensmuster bei sich selbst oder einer Ihnen nahestehenden Person fest, liegt möglicherweise eine Zwangsstörung vor:
- Sehr häufiges Putzen oder Waschen, oft ohne nachvollziehbaren Grund
- Starkes Bedürfnis nach wiederholter Kontrolle
- Ordnung, Symmetrie und Struktur stehen oft im Vordergrund
- Unangenehme Vorstellungen oder Gedanken, die ständig auftreten und sich nicht wegschieben lassen
- Deutlich mehr Zeitbedarf als bei anderen Menschen, um alltägliche Dinge zu erledigen
Diagnose
Um eine Zwangsstörung feststellen zu können, ist besonders die Zeit ein wichtiger Indikator. Treten die Symptome über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen nahezu durchgängig auf und beanspruchen jeden Tag eine Stunde oder mehr, kann dies auf ein zwanghaftes Verhalten hindeuten. In einem ersten Gespräch erfragt die Ärztin oder der Arzt außerdem, welche Gedanken, Vorstellungen und Handlungen genau sich immer wieder aufdrängen. Außerdem ist für die Diagnose wichtig, wie die Betroffenen selbst die Zwänge empfinden, etwa als unverhältnismäßig und große Belastung, weil sie nicht dagegen ankommen. Häufig sind Zwangsstörungen mit anderen psychischen Erkrankungen wie etwa Depressionen , Psychosen oder Ticstörungen verbunden und werden mitunter in diesem Zusammenhang diagnostiziert.
Da Angst ein entscheidender Bestandteil einer Zwangsstörung ist, muss durch die Diagnose auch eine Angststörung ausgeschlossen werden.
Denn in der neuen Version der International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) , die zum 1. Januar 2022 in der (vorläufigen) deutschen Erstfassung in Kraft getreten ist, werden Zwangsstörungen nicht mehr den Angststörungen, sondern einer eigenen Kategorie zugeordnet. In diese Kategorie wurden auch weitere zwangsähnliche Erkrankungen aufgenommen und als eigenständige Krankheitsbilder anerkannt, etwa die Trichotillomanie (Ziehen und Reißen an den eigenen Haaren).
Mithilfe einer anschließenden körperlichen Untersuchung kann die Ärztin oder der Arzt mögliche andere Ursachen wie eine neurologische Erkrankung ausschließen. Dazu kann etwa eine Elektroenzephalografie (EEG) des Gehirns durchgeführt werden.
Therapie
Zwangsstörungen sind in der Regel nicht heilbar. Mithilfe therapeutischer Maßnahmen lassen sich die Zwänge jedoch gut unter Kontrolle bringen, sodass Betroffene besser mit ihnen leben können.
Der erste Ansatz der Behandlung ist in der Regel eine kognitive Verhaltenstherapie, eine spezielle Form der Psychotherapie . Betroffene lernen dabei, mit ihren Ängsten umzugehen und ihnen aktiv gegenzusteuern, anstatt sie durch Zwangshandlungen zu bekämpfen. Unter anderem werden sie gezielten Triggern ausgesetzt, die das jeweils belastende Gefühl hervorrufen und so zur Zwangshandlung verleiten. Diese sollen die Betroffenen dann jedoch nicht ausführen - und auf diese Weise erkennen, dass dadurch nichts Schlimmes passiert und die Angst wieder vergeht.
Wirkt sich die Erkrankung auch auf das Familienleben aus oder sind Familienmitglieder in die Zwangsrituale eingebunden, kann eine Therapie gemeinsam mit den nächsten Angehörigen sinnvoll sein. Dadurch können auch sie lernen, den Zwängen besser zu begegnen, und zum Therapieerfolg beitragen.
Zusätzlich kann eine medikamentöse Therapie zum Einsatz kommen, etwa wenn weitere psychische Erkrankungen wie eine Depression vorliegen oder die Zwangsstörung sehr stark ausgeprägt ist. Auch wenn durch die Zwangsgedanken Suizidgefahr besteht, können diese zunächst mithilfe von Antidepressiva gelindert werden. Vorrangig werden dabei sogenannte selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) eingesetzt. Sie regulieren die erhöhte Aktivität der betroffenen Gehirnregion.
Schließlich können auch Selbsthilfegruppen dazu beitragen, die Zwangsstörung besser zu bewältigen. Der Austausch mit anderen Betroffenen kann Kraft spenden und Tipps für den Umgang mit der Erkrankung bieten. Unter anderem stellt die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V. eine Übersicht bestehender Selbsthilfegruppen sowie eine Kontaktmöglichkeit bereit.
Selbsthilfe per App
Die COGITO-App wurde von Expertinnen und Experten des UKE Hamburg entwickelt und stellt Übungen bereit, um die psychische Gesundheit zu stärken sowie therapiebegleitend psychische Erkrankungen zu bewältigen. Sie enthält auch eine Kategorie mit speziellen Übungen bei Zwangsstörungen. Die App ist kostenlos und verlangt keinerlei personenbezogene Daten. Mehr Informationen finden Sie auf der dazugehörigen Website des UKE .