Einsamkeit erkennen und verstehen: Ein Video-Interview mit Dr. Philipp Bergmann
Interview aus Schleswig-Holstein
Einsamkeit wird häufig als Volkskrankheit bezeichnet - aber ist Einsamkeit überhaupt eine Krankheit? In unserem #SegelSetzen-Interview klärt Dr. Philipp Bergmann, Internist, Geriater und Palliativmediziner am UKSH, diese Frage und spricht außerdem darüber, wie sich Einsamkeit zeigt, wann sie bedenklich wird und wie man sie bekämpfen kann.
Sören Schmidt-Bodenstein: Herr Bergmann, Sie sind Oberarzt für internistische Altersmedizin, Facharzt für Innere Medizin, Geriatrie und Palliativmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein - wo kommen Sie in Ihrem Arbeitsalltag mit Einsamkeit in Berührung?
Dr. Philipp Bergmann: Man muss das Thema Einsamkeit nicht im Kopf haben, wenn man als Arzt oder als Ärztin durch's Krankenhaus geht. Aber wenn man weiß, dass es in unserer Gesellschaft existiert, dann fällt einem das immer wieder auf. Und das kann eine echte Herausforderung sein, zu erkennen: Wo spielt Einsamkeit eine Rolle? Wo führt Einsamkeit in die Krankheit? Und wo ist es die Krankheit, die Einsamkeitserleben verstärkt?
Schmidt-Bodenstein: Gibt es denn neben dem alltäglichen Verständnis von Einsamkeit eine medizinische Definition?
Bergmann: Also es gibt eine wissenschaftliche Definition, denn Einsamkeit ist eigentlich keine Krankheit. Einsamkeit ist ein Zustand, den wir dann empfinden, wenn wir weniger soziale Interaktionen haben, als wir es eigentlich möchten. Also wenn sich der Bedarf von dem unterscheidet, was man eigentlich hat. Es gibt ja auch Leute, die leben allein und haben wenig soziale Kontakte, aber die sind zufrieden damit - die sind dann auch nicht einsam.
Schmidt-Bodenstein: Und wann nehmen Menschen dann Einsamkeit als Belastung wahr oder leiden darunter?
Bergmann: Da gibt es bestimmt viele Situationen im Leben - insbesondere wenn sich die Lebenssituation ändert. Das kann beispielsweise ein älterer Herr sein, der nach 50 Jahren Ehe plötzlich allein als Witwer da steht oder auch eine Studentin, die aus dem Elternhaus in eine neue Stadt zieht und dort noch keine sozialen Kontakte hat.
Schmidt-Bodenstein: Wann würden Sie Menschen mit Einsamkeitsgefühlen raten, sich professionelle Hilfe zu suchen?
Bergmann: Also wir können von unserem Leben nicht erwarten, dass es immer gut ist. Wir haben manchmal Phasen von Trauer, von Krankheit und vielleicht auch mal von Einsamkeit. Wenn wir aber durch diese Einsamkeitsgefühle anfangen zu leiden - z. B. weil Grundbedürfnisse nicht mehr gestillt werden können oder man verlernt hat Fremden zu begegnen. Dann wäre es richtig, sich Hilfe zu suchen.
Denn wenn man schließlich die Einsamkeit bekämpfen könnte, dann würde sich auch das Leid in ganz anderen Bereichen vermindern. Zum Beispiel müsste man vielleicht seltener zu Arztbesuchen und könnte sich wieder produktiv im Alltag und in der Gesellschaft beteiligen.
Schmidt-Bodenstein: Angenommen Sie wären auf Ihrem Lebensweg nicht Richtung Arzt gegangen sondern in die Politik. Was wären Ihre Maßnahmen, um das Thema Einsamkeit anzugehen?
Bergmann: Ich glaube, wir müssen das Thema gesamtgesellschaftlich angehen. Zum Beispiel indem wir in den Gemeinden niederschwellige Treffpunkte schaffen, wo insbesondere auch unsere schwächeren Mitglieder Zugang zu Gesellschaft finden - etwa so wie die "Anlaufstellen Nachbarschaft" in Kiel. Oder auch indem wir Stellen schaffen, wo Kompetenzen zum Umgang mit Einsamkeit erworben werden können. Vielleicht ist es schon gut, wenn man wie die TK oder andere Einrichtungen das Thema Einsamkeit aufgreift und bewusst macht. Denn wenn man erstmal den Begriff kennt, kann man geschickter damit umgehen - als betroffene Person oder auch als Mitgestalter der Gesellschaft.