"Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft ein durch alle sozialen Schichten und Altersgruppen präsentes und zunehmendes Thema"
Interview aus Bremen
In Bremen organisiert die Arbeiterwohlfahrt (AWO) ein Orientierungsangebot für Menschen in der Übergangsphase vom Berufsleben in den Ruhestand. Beim "roten Faden für den Ruhestand" steht neben praktischen Informationen vor allem der soziale Austausch für Menschen ab 60 Jahren im Fokus. Im Interview berichtet Saskia Wöhler, AWO Bremen, über den Ansatz des Projekts, inwiefern Kultur verbindet und welche Möglichkeiten die individuelle Beratung bietet.
TK: Mit dem Projekt "Der rote Faden für den Ruhestand" bietet die AWO Bremen ein Orientierungsangebot für Menschen in der Übergangsphase vom Berufsleben in den Ruhestand, das Einsamkeit entgegenwirken und die Teilhabe älterer Menschen stärken soll. Warum ist es so wichtig, in genau dieser Lebensphase anzusetzen?
Saskia Wöhler: Der Übergang vom Berufsleben ist eine zentrale Phase im Leben und zugleich wenig beachtet. Durch den Wegfall des Arbeitslebens fällt zum einen die äußere Tagesstruktur weg und zum anderen auch ein Großteil der sozialen Struktur für viele Menschen. Auch die eigene Identität ist für viele Menschen eng mit ihrem Beruf verbunden. Das sind verschiedene Felder, in denen Menschen mit großen Unsicherheiten konfrontiert sind. An diesen Stellen setzt unser Projekt an, um die Menschen in diesem Prozess zu unterstützen.
Der Übergang vom Berufsleben ist eine zentrale Phase im Leben und zugleich wenig beachtet.
TK: Einsamkeit ist ein Gefühl, das gesellschaftlich immer mehr Aufmerksamkeit erfährt. Als Techniker Krankenkasse widmen wir dem Thema aktuell einen eigenen Einsamkeitsreport . Nehmen Sie wahr, dass die Bedarfe steigen und sich insgesamt mehr Menschen an Sie wenden, die sich häufig einsam fühlen?
Wöhler: Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft ein durch alle sozialen Schichten und Altersgruppen präsentes und zunehmendes Thema und findet sich daher auch bei uns im Projekt. Allerdings weniger indem Menschen zu uns kommen und klar sagen: "Ich bin einsam."
Brüche im Leben bergen jedoch immer die Gefahr von Einsamkeit und Isolation. In diesen Situationen ist die eigene Initiative gefragt und da sind die Kompetenzen der Menschen sehr verschieden. Zugleich gibt es eine große Scham - die wenigsten Menschen benennen ihre Einsamkeit. Hier herrscht innerlich schnell ein Gefühl von "Wenn ich einsam bin, muss mit mir etwas nicht stimmen." Es wird von vielen als Stigma wahrgenommen und so geht es in unserer Arbeit eher um unser Feingefühl, diese Bedarfe auch zu sehen und die Menschen entsprechend einzubinden.
Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft ein durch alle sozialen Schichten und Altersgruppen präsentes und zunehmendes Thema und findet sich daher auch bei uns im Projekt.
Zudem ist Einsamkeit subjektiv - die Quantität oder Qualität der sozialen Kontakte entspricht nicht den individuellen Bedürfnissen. Jemand, der viel allein unternimmt und gerne mit sich ist, muss nicht einsam sein. Ebenso wenig muss sich jemand verbunden fühlen, der viel mit Menschen zusammen ist. Das fordert genaues Hinschauen und Zuhören.
TK: Im Rahmen des Projekts bringen Sie Menschen in der nachberuflichen Phase zusammen, die kulturinteressiert sind und diese Leidenschaft gerne mit anderen teilen möchten. Inwiefern kann gerade Kultur verbinden?
Wöhler: Wir versuchen generell, Menschen niedrigschwellig anzusprechen und bieten hier auch Kulturangebote an. Kultur bietet sich für ein ungezwungenes Beisammensein an. Über den Anlass wird ein Austausch mit bisher Fremden möglich. Ob es dabei ein Besuch im Theater, ein Konzert oder Vortrag sowie eine Führung durch ein Museum ist - man ist erstmal ein Teil einer Gruppe. Schreibangebote, Austausch über Literatur, Vorträge mit Diskussionen, Führungen, eine Ü-60-Disco, ein Spieletreff oder ein offener Treff sind weitere niedrigschwellige Angebote, um in Kontakt zu kommen. Wir achten auch darauf, dass die Themen nach Möglichkeit Gespräche fördern und Anknüpfungspunkte bieten.
TK: Im Zuge des "roten Fadens für den Ruhestand" bieten Sie auch die Möglichkeit zu individuellen Beratungsgesprächen. Wo setzen Sie in der Beratung an und was sind Herausforderungen, mit denen Sie konfrontiert werden?
Wöhler: Die Beratungen werden von meinem Kollegen Lukas Matzner durchgeführt, der im Bereich Altersarmut der Projektexperte ist. Es ist wichtig, offen in diese Gespräche zu gehen und den Teilnehmenden ausreichend Zeit für eine Beschreibung ihrer Situation und Bedarfe einzuräumen.
Es ist wichtig, offen in diese Gespräche zu gehen und den Teilnehmenden ausreichend Zeit für eine Beschreibung ihrer Situation und Bedarfe einzuräumen.
Manche Teilnehmende bringen auch konkrete Fragen mit. Darauf aufbauend schaut mein Kollege nach individuell passenden Lösungen, wobei es zwei Schwerpunkte gibt: Einerseits ist dies die orientierende Beratung zu sozialen Leistungen, wie etwa dem Wohngeld oder der Grundsicherung im Alter; andererseits kann es unabhängig von finanziellen Belangen um niedrigschwellige, kostengünstige Teilnahmeangebote gehen. Hier schauen wir zum Beispiel nach wohnortnahen Angeboten oder empfehlen die Veranstaltungen unserer Kooperationspartner.
Teilweise herausfordernd ist, dass wir ein orientierendes Beratungsangebot darstellen, welches einen Überblick geben möchte. Bei sehr spezifischen Anliegen müssen wir leider manchmal weiterverweisen. Eine weitere Herausforderung ist die Hemmschwelle, überhaupt ein beratendes Angebot zu nutzen.
TK: Wann gehen Sie mit einem positiven Gefühl aus einem Beratungsgespräch?
Wöhler: Wenn wir sicher sind, dass wir einer Person umfassend verschiedene Möglichkeiten für eine verbesserte Teilhabe aufgezeigt haben. Besonders schön ist es, wenn man einige Zeit nach dem Beratungsgespräch erfährt, dass sich die Situation einer Person verbessert hat, sei es, dass eine zustehende soziale Leistung bewilligt wurde oder man die Person nun regelmäßig bei den soziokulturellen Veranstaltungen des Projektes "Der rote Faden für den Ruhestand" trifft.