"Damit Menschen auch im Notfall gut versorgt sind, wollen wir die Notfallversorgung reformieren."
Interview aus Bremen
Wir haben die Bundestagsabgeordnete Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Bündnis 90/Die Grünen), Mitglied im Gesundheitsausschuss, im Interview unter anderem gefragt, wie medizinische Versorgung verbessert werden kann und wie wichtig in Zukunft der Erwerb von digitaler Gesundheitskompetenz ist.
Durch die gestiegene Anzahl an Gesundheitsangeboten wächst auch die Möglichkeit der Teilhabe. Damit die Anliegen der Versicherten auch weiter im Fokus stehen, sollen sie umfassend begleitet und in Bezug auf ihre Gesundheitskompetenz unterstützt werden. Auch der öffentliche Gesundheitsdienst muss gestärkt werden, er unterstützt die Krankenkassen bei der Prävention.
TK: Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie für eine bessere medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten?
Dr. Kirsten Kappert-Gonther: Um die Gesundheitsversorgung zu verbessern, müssen wir die noch immer viel zu starren Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung überwinden. Die bislang getrennten Vergütungssysteme sollen sektorenübergreifend weiterentwickelt werden. Dasselbe gilt für die bisher getrennte ambulante Bedarfs- und stationäre Krankenhausplanung. Auch die Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe wollen wir stärken. Eine Person mit Diabetes braucht beispielsweise außer der haus- und fachärztlichen Versorgung eine medizinische Fußpflege und eine Ernährungstherapie. Eine Person mit Rückenbeschwerden braucht mindestens eine ärztliche und eine physiotherapeutische, gelegentlich auch psychotherapeutische Behandlung. Gerade ältere Menschen benötigen sowohl pflegerische als auch ärztliche Hilfe. Gute Versorgung setzt vertrauensvolle Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen auf Augenhöhe voraus. Die gilt es zu stärken.
Damit Menschen auch im Notfall gut versorgt sind, wollen wir die Notfallversorgung reformieren. Patientinnen und Patienten müssen ohne lange Warterei die Hilfe bekommen, die sie auch wirklich benötigen. Auch wer in seelischer Not ist, muss schnell passgenaue Hilfe finden. Dafür braucht es u.a. einen flächendeckenden Ausbau der Krisendienste. In der Geburtshilfe streben wir einen Kulturwandel an, so dass Mutter und Kind im Mittelpunkt stehen. Dafür braucht es u.a. eine 1:1-Betreuung durch eine Hebamme während der entscheidenden Phasen der Geburt.
Nicht zuletzt muss Prävention und Gesundheitsförderung im Alltag, am Arbeitsplatz, in Kita und Schule gestärkt werden. Wie wir leben, aufwachsen, arbeiten, alt werden, hat einen großen Einfluss auf die Gesundheitschancen. Es muss einfacher werden, sich gesund zu ernähren und sich ausreichend zu bewegen. Das beginnt bei gutem und gesunden Essen in Kita, Schule und Kantine, reicht über sichere Radwege hin zu betrieblichem Gesundheitsmanagement. Ob der Besuch der mobilen Zahnärztin oder Zahnarzt in der Schule oder die Impfaktion im Pflegeheim - für Gesundheitsförderung, die Menschen unkompliziert erreicht, braucht es eine dauerhafte Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Dazu sollte auch der Bund künftig einen Beitrag leisten.
TK: Der Bericht des Patientensicherheitsbeauftragten der TK für das Jahr 2020 befasst sich auch mit der Teilhabe von Patientinnen und Patienten am Behandlungsprozess. Das Motto: Von der Information zur Partizipation. Wie kann die Rolle von Patientinnen und Patienten nach ihren Erfahrungen noch weiter gestärkt werden?
Kappert-Gonther: Die Patientensicherheit sowie die Würdigung der Patienteninteressen gehören in den Mittelpunkt eines guten Versorgungssystems. Unabhängige, persönliche und verständliche Informationen sind für Patientinnen und Patienten enorm wichtig, um selbst bestimmt und auf informierter Grundlage Entscheidungen treffen und die eigenen Rechte wirksam durchsetzen zu können.
Wir treten für Behandlungsformen ein, die auf Freiwilligkeit statt auf Zwang setzen. Wir wollen etwa psychiatrische Einrichtungen verpflichten, Patientinnen und Patienten mit wiederkehrenden Krisen Behandlungsvereinbarungen anzubieten. So können Betroffene, wenn sie es möchten, gemeinsam mit ihrer Ärztin oder ihrem Psychotherapeuten verbindlich festlegen, wie sie in der Krise behandelt werden möchten.
Eine bessere Patientenbeteiligung muss sich auch auf institutioneller Ebene widerspiegeln: Damit die Interessen der Patientinnen und Patienten in der Selbstverwaltung mehr Gehör bekommen, ist eine bessere personelle und finanzielle Unterstützung der Patientenvertretung notwendig. Außerdem wollen wir den Patientenvertreterinnen und -vertretern mehr Rechte übertragen wie das Stimmrecht in Verfahrensfragen, die Wahl eines unparteiischen Mitglieds im Gemeinsamen Bundesausschuss oder eine stärkere Berücksichtigung in weiteren Institutionen der Selbstverwaltung. Wir schlagen zudem die Gründung einer unabhängigen Stiftung vor, die den Patientenbelangen einen verlässlichen Ort verleihen und insgesamt die Patientenorientierung in der Gesundheitsversorgung stärken soll.
TK: Wie wichtig wird zukünftig in einem zunehmend digitalisierten Gesundheitssystem eine "digitale Gesundheitskompetenz" für die Patientinnen und Patienten sein?
Kappert-Gonther: Die Digitalisierung bietet enorme Chancen für das Gesundheitswesen. Mit digitalen Technologien werden zum Beispiel in ländlichen Räumen neue Möglichkeiten zur schnelleren und sicheren Diagnostik eröffnet. Durch eine bessere Kommunikation und Koordination von Ärztinnen und Ärzten und weiteren Gesundheitsberufen und das Teilen von Informationen können die Sektorengrenzen überwunden werden. Digitalisierung ist kein Selbstweck, sie muss vor allem einen Nutzen für die Patientinnen und Patienten und ihre Versorgung schaffen. Damit das gelingt, werden wir zusammen mit den relevanten Akteuren im Gesundheitswesen eine Strategie für das Gesundheitswesen entwickeln, mit Richtung, Meilensteinen, klaren Verantwortlichkeiten und Prioritäten.
Bislang spielen die Interessen der Patientinnen und Patienten bei der Digitalisierung eine zu geringe Rolle. Sie können zum Beispiel nicht mitbestimmen, welche Funktionen die elektronische Patientenakte zuerst erhält. Unser Ziel ist die stringente Einbeziehung der Nutzerinnen und Nutzer in die Weiterentwicklung der Digitalisierung. So werden wir sicherstellen, dass auch Anwendungen entstehen, die einen Nutzen für die Patientinnen und Patienten und deren Versorgung haben. Wichtiger Bestandteil der Strategie muss auch die Förderung von Digitalkompetenz, Akzeptanz und Vertrauen zur Digitalisierung für das Gesundheitswesen bei den Nutzerinnen und Nutzern, bei Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften sowie weiteren Gesundheitsberufen sein.