Wie kann die Digitalisierung in der pflegerischen Versorgung gelingen?
Interview aus Niedersachsen
In der Pflege gibt es viele Baustellen. Über die Herausforderungen dieses Themas haben wir ein ausführliches Interview mit Prof. Dr. Martina Hasseler, Professorin an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaft, geführt.
TK: Was gehört aus Ihrer Sicht zu einer qualitativ hochwertigen pflegerischen Versorgung?
Prof. Martina Hasseler: Dazu gehört, die Pflegefachberufe als Profession weiterzuentwickeln und strukturell und systemisch in die Gesundheitsversorgung zu integrieren. Der Mehrwert professioneller Pflege, der ja auch durch internationale Studien sehr belegt ist, muss in Deutschland anerkannt und über differenzierte Bildungswege und Einsatzmöglichkeiten in Deutschland integriert werden.
Eine qualitativ hochwertige Pflege ist, wenn Pflegefachberufe auf der Grundlage eines pflegefachlichen Verständnisses in Abhängigkeit von ihrer Qualifikation und von ihren Kompetenzen in allen Settings und Sektoren des Gesundheitssystems eigenverantwortlich im pflegefachlichen Bereich gemeinsam mit anderen Gesundheits- und Therapieberufen (darin sind auch Ärzte und Ärztinnen inkludiert) eine Patientinnen- und Patientenorientierte und bedarfsangemessene Gesundheitsversorgung durchführen können und dabei gute Outcomes und Qualität erzeugen. Dabei sind die pflegefachlichen Interventionen datengestützt erhoben und evidenzbasiert durchgeführt. Die datengestützten und evidenzbasierten pflegerischen Leistungen werden in den Versorgungsverträgen integriert.
TK: Das Thema Digitalisierung und Pflege gewinnt an Fahrt. In welchen Bereichen kann Digitalisierung gute pflegerische Versorgung unterstützen?
Prof. Hasseler: Zunächst finde ich es sehr gut, dass Sie die Formulierung wählen, wie Digitalisierung gute Pflege unterstützen kann. Oftmals wird erwartet, dass die Digitalisierung die Pflegefachberufe entlasten kann. Wer aber die Pflegefachberufe von pflegefachlichen Aufgaben entlasten will, will sie abschaffen; wer sie von pflegeberufsfremden Aufgaben entlasten will, zielt auf Funktionsbereinigung ab (pflegeberufsfremde Aufgaben werden entfernt, Pflegefachberufe können Verantwortlichkeiten nachkommen, für die sie gemäß Pflegeberufegesetz ausgebildet werden).
Eine Digitalisierung in der Pflege orientiert sich am wissenschaftlich-orientiertem Verständnis des Pflegeprozesses mit Assessment, Stellen der Pflegediagnose, Maßnahmenplanung, Implementierung der Maßnahme (Intervention) und der Evaluation. Der Pflegeprozess ist das Kerninstrument der Berufspflege und funktioniert wie ein klassischer PDCA-Zyklus mit Plan-Do-Check-Act. Leider sind im deutschen Gesundheitssystem nur ICDs relevant, eine ärztliche Diagnose. Welcher Pflegebedarf aber zum Beispiel aus einer ICD-Kodierung erfolgt, kann bei uns auch im Jahr 2023 nicht erfasst werden, da die Pflege nicht über die international bekannten und in vielen Ländern etablierten datengestützten Klassifikationssysteme verfügt. Eine erfolgreiche Digitalisierung in der Pflege kann nur mit der Einführung einer standardisierten Pflegesprache, einer Terminologie gelingen. Ohne sie bleiben pflegefachliche Leistungen weiterhin unsichtbar.
Die gegenwärtigen Abrechnungspositionsnummernverzeichnisse zur Abrechnung der Leistungen Häuslicher Krankenpflege oder SGBXI-Leistungen sind keine Pflegeterminologie. Eine professionelle Pflege wird ohne datengestützte Leistungsklarheit keinen eigenen Verantwortungsbereich zeichnen können. Datengestützte Pflegeklassifikationen beschreiben den Wissenskörper der Pflege. Sie identifizieren, definieren, standardisieren, klassifizieren und validieren Pflegephänomene in einer international anerkannten Fachsprache. Damit schaffen sie auch eine wissenschaftliche Basis für das Pflegewissen. Zu den wichtigsten gehören NANDA-Diagnosen (North American Nursing Diagnosis Association), die Pflegeinterventionsklassifikation NIC und die Pflegeergebnisklassifikation NOC (Nursing Outcomes Classification). Anhand dieser Klassifikationssysteme könnte perspektivisch die Erfassung der Pflegebedürftigkeit und das Begutachtungsverfahren durch die Parallelstruktur Medizinischer Dienst entfallen. Anhand der Klassifikationssysteme könnte die Pflegefachperson eines Pflegedienstes den Pflegebedarf erheben. Dieser würde mit NANDA auf Grundlage validierter Assessmentinstrumente erhoben und wäre weitaus differenzierter als der gegenwärtige Pflegebedürftigkeitsbegriff. Für die Berechnung des Pflegegrades könnte ein Score gebildet werden.
Bislang haben wir ein lustiges Durcheinander in der Erfassung und Dokumentation von pflegerischen Maßnahmen und Leistungen, Freitext, handschriftlich oder nur mit rudimentären Stichworten. Pflegerische Maßnahmen werden in Deutschland kaum codiert und vor allem im Freestyle. Um aber eine Digitalisierung in der Pflege zu gestalten, die interprofessionelle und intersektorale Zusammenarbeit wie auch die Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz ermöglicht, ist die Einführung einer standardisierten Pflegesprache und Codierung unabdingbar.
Digitalisierung muss fachliche sowie evidenzbasierte Pflege zum Ziel haben und die Bedarfe und Bedürfnisse der Pflegefachberufe sowie der Patientinnen und Patienten und pflegebedürftigen Menschen eruieren. Es ist wichtig festzulegen, in welchen Schritten des Pflegeprozesseses auf der Mikro-, Meso- und Makroebene mit digitalen Tools wirksam die pflegerische Versorgung unterstützt werden kann. Es ist sinnvoll, bei der Entwicklung digitaler Tools für die Pflegeberufe und pflegerische Versorgung, sich am Pflegeprozess als strukturierendes Merkmal zu orientieren, da dieses das zentrale professionelle Instrument der Gestaltung pflegerischer Versorgung in allen Settings und Sektoren ist. Die Passung digitaler Tools in den Pflegeprozess wird die Sinnhaftigkeit und die Akzeptanz der digitalen Technologien beeinflussen und damit auch, wie gut sie in den Pflegeprozess integriert werden können. Daraus ist abzuleiten, dass in der Entwicklung von digitalen Technologien in der Pflege immer die Gestaltung des Pflegeprozesses in der patienten- bzw. pflegebedürftigennahen Versorgung mitgedacht werden muss.
Neben der Einführung einer Datensprache können mögliche Tools beispielsweise Wearables zur Aufzeichnung von Vitalparametern sein; mobile Telefonie, um Schmerzen, psychischen Stress, Lebensqualität aufzuzeichnen; Robotik, die Medikationen verteilt; Videokonsultationen, Patientinnen- und Patientenmonitoring auf Distanz, Pflegechatbox, Telenursing und weiteres mehr.
Insgesamt muss man aber sagen, dass auch die internationale Forschung zu wirksamen digitalen Tools in der Pflege bezogen auf Wirksamkeit, Outocmes und weiteres mehr undifferenziert ist. Es gibt sehr viele eruierende Projekte, aber ob und wie die digitalen Tools die pflegerische Versorgung unterstützen und wer die Kosten für die Entwicklung und Implementation übernimmt, ist national wie international nicht geklärt.
TK: Wie kann die Einführung von Digitalisierungsprozessen in den Pflegebetrieb gelingen? Haben Sie Erfahrungen aus Niedersachsen?
Prof. Hasseler: Bei den Einrichtungen und Trägern der Langzeitpflege (im Kontext des SGB XI), sind wir noch sehr am Anfang. Leider wird unter Digitalisierung der Pflege oft nur Informations- und Kommunikationstechnologie verstanden. Dabei sind Inhalte und Möglichkeiten der Digitalisierung in der Pflege sehr viel differenzierter, wie ich in obiger Antwort skizziert habe.
Ich möchte darauf hinweisen, dass ich unter Pflege nicht die Pflegeversicherung bzw. das SGB XI verstehe. Diesem Missverständnis unterliegen viele im Gesundheitssystem. Die Pflegeversicherung zahlt nicht die Pflege, sondern ist nur zuständig für Pflegegrade und Ermöglichung basaler Hilfeleistungen. Berufliche Pflege findet normalerweise in Kliniken, Rehabilitation, öffentlicher Gesundheitsdienst, ambulante und stationäre Langzeitpflege statt.
Insgesamt steckt die Digitalisierung für die pflegerische Versorgung in allen Settings und Sektoren und für die Pflegefachberufe noch in den Kinderschuhen. In Projekten ist zu erkennen, dass die digitalen Tools noch nicht differenziert entwickelt sind, kaum die Pflegeprozesse unterstützen und infrastrukturelle Herausforderungen vorliegen. Darüber hinaus sind den meisten Trägern und Einrichtungen nicht bewusst, dass Digitalisierung in pflegerischer Versorgung eine komplexe Intervention darstellt, die ein Implementierungs- und Change Management erfordert. Die Einführung von Digitalisierung in pflegerischer Versorgung ist kein Selbstläufer.
Es entsteht der Eindruck, dass viele Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger im Gesundheitssystem die Hoffnung haben, dass die Digitalisierung alle Probleme der pflegerischen Versorgung lösen kann. Sie wird fast wie eine Magic box verstanden, die wie von Zauberhand dafür sorgt, dass auf einmal eine bedarfsangemessene pflegerische Versorgung erfolgen kann. Aber die Digitalisierung der Pflege (in allen Settings und Sektoren) wird auf anderen Ebenen wieder komplexe Veränderungen und Anforderungen erzeugen, auch neue Berufe mit digitalen Skills und Kompetenzen. Definitiv werden die Systemanforderungen analog wie digital sehr viel höher werden.
Wie kann nun die Digitalisierung in der pflegerischen Versorgung gelingen? Wir brauchen
- die Reflexion, wie das digitale Tool in welchem Schritt des Pflegeprozesses sinnvoll unterstützen kann.
- die Einführung digitaler Tools in die pflegerische Versorgung (Krankenhaus, Prävention/Gesundheitsförderung, Rehabilitation, ambulante und stationäre Langzeitpflege)
- ein Implementierungsmanagement und Change Management.
- die Auswahl, die Einführung und Umsetzung neuer digitaler Tools, die als partizipativer Prozess unter gleichberechtigter Integration aller Berufe erfolgen
- die Einführung einer standardisierten Pflegesprache
- Aus-, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten, um Pflegefachberufe mit digitalen Kompetenzen auszustatten.
TK: Welche Hebel sind aus Ihrer Sicht notwendig und wirkungsvoll, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen und neue Pflegekräfte zu gewinnen?
Prof. Hasseler: Die Frage, wie man die Pflegeberufe attraktiv machen kann, greift meiner Meinung nach viel zu kurz. Sie impliziert, es gäbe eine Toolbox, derer man sich bedienen könnte und auf einmal sei der Pflegefachberufemangel gelöst.
Die "Pflegeberufe attraktiver machen" hört sich in etwa so an, als wenn man sie zur Friseurin oder Kosmetikerin oder Schönheitschirurgin schicken könnte und eine neue Haarfrisur, neue Haarfarbe oder gar eine Botoxinjektion jetzt auf einmal eine größere Attraktivität herstellt (wobei auch nicht zwingend diese auch mit diesen Maßnahmen gegeben ist).
Allein die Tatsache, dass wir uns seit Jahrzehnten damit beschäftigen und seit zwei Jahrzehnten es in Deutschland erfolgreich geschafft haben, die Pflegeberufe weiter zu deprofessionalisieren und entfachlichen zeigt ja, dass wir mit der Frage nach Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe viel zu kurz greifen. Das Problem des Pflegefachberufemangels und der Unattraktivität von Pflegeberufen ist tief systematisch und strukturell in unserem System verankert.
In einer Denkfabrik oder auch auf Neudeutsch in einem Think Tank (im Institut für Gesundheit und Altern e.V., IPAG) haben wir uns differenzierte Gedanken darüber gemacht, aus welchen Gründen die Pflegefachberufe in unserem Gesundheitssystem nicht gefördert, unterstützt und strukturell verankert werden und welche Maßnahmen und Interventionen wir benötigen, um Pflegefachberufe zu erhalten und zu fördern. Ich werde nachfolgend kurz einige Punkte skizzieren:
- Wenn wir Pflegefachberufe in diesem System erhalten und fördern wollen, bedarf es einer Aufbaudekade Pflege.
- Ein Bekenntnis von Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen im System, dass sie Spitzenpflege wollen.
- Ein Sozialgesetzbuch für die berufliche Pflege. Die pflegefachlichen Leistungen sind nirgendwo leistungsrechtlich abgesichert. Wir müssen aufhören, fälschlicherweise das SGB XI mit Pflegeberufen und pflegefachlicher Versorgung zu verwechseln. Ein eigenes Leistungsrecht für Pflegefachberufe definiert die Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und die kodifizierten Leistungen, die die Basis für die Leistungserbringung darstellen.
- Die Pflegeberufe systemrelevant im Gesundheitssystem verankern. Deutschland hat ein Gesundheitssystem, das über Sozialgesetzbücher und Selbstverwaltungsorgane funktioniert. Wer nicht in diesem System verankert ist, hat kein Mitspracherecht.
- Differenzierte berufliche Wege für Pflegefachberufe entwickeln. Derzeit werden Pflegehelferin mit Pflegefachberufen gleichgesetzt. Entscheidungsträger*innen sind sich gar nicht bewusst, dass sie damit die Pflegefachberufe und das Examen entwerten. Sie benötigen autonome Aufgabenbereiche, in denen sie eigenständig die Gesundheitsversorgung gestalten können. Die Pflegefachberufe müssen als Profession in Deutschland weiterentwickelt werden.
- Der Arztvorbehalt muss reformiert werden. Er wird deswegen in Deutschland so eng ausgelegt, weil die anderen Berufe im Gesundheitswesen keine eigenständigen Aufgabenbereiche übertragen bekommen. Eine Patientinnen- und Patientenorientierte und interprofessionelle Gesundheitsversorgung benötigt die Integration aller Berufsgruppen
- Eine Pflegeberufe- und Pflegebedarfsberichterstattung. Die derzeitige sogenannte Pflegeberichterstattung ist im Grunde nur eine Berichterstattung über die Pflegeversicherung. Aber es gibt keine Berichterstattung über Pflegefachberufe, deren Entwicklungen sowie über Pflegebedarfe in den differenzierten Sektoren und Settings.
- Selbstverständlich müssen die Gehälter an den Qualifikations- und Kompetenzniveaus orientiert werden. Aus-, Fort- und Weiterbildung in Pflegefachberufen muss sich lohnen. Die Entwicklung moderner Arbeitszeitmodelle, Family-Worklife-Balance und Age-Management-Modelle für Pflegefachberufe sollten eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.
TK: Sie sind auch Mitglied der Regierungskommission zur Reform der Krankenhauslandschaft. Welche Vorteile ergeben sich Ihrer Einschätzung nach aus den Vorschlägen der Regierungskommission für die Pflege im Krankenhaus?
Prof. Hasseler: Das Thema der Pflegeberufe und pflegerischen Versorgung in den Krankenhäusern ist nicht der Schwerpunkt der Regierungskommission. Im Vordergrund der Diskussionen stehen Fragen der Finanzierung und der ärztlichen Versorgung. Zwar tangieren alle bisher und zukünftig zu erarbeitenden Themen die Pflegeberufe und wie die pflegerische Versorgung weiterhin im Krankenhaus erfolgen kann, aber im Grunde sind die Themen der pflegerischen Versorgung und der Pflegefachberufe immer nur am Rande diskutiert.
Nicht vergessen sollte man auch, dass fast alle Disziplinen, die mit dem Gesundheitswesen in Deutschland zu tun haben, für sich in Anspruch nehmen, etwas über Pflegeberufe sagen zu können. Das macht es nicht einfacher, die pflegewissenschaftliche Perspektive einzubringen. Vor allem, wenn traditionell die Gesundheitsökonomie zuerst gefragt wird, wenn Fragen zu Pflegefachberufen und pflegerischen Versorgung beantwortet werden sollen.
In den Diskussionen und Vorschlägen wird aus meiner Sicht sehr häufig deutlich, wie wenig der Status der Pflegeberufe im Gesundheitssystem verstanden wird. Es werden gelegentlich Vorschläge gemacht, da muss ich immer wieder darauf hinweisen, dass unter den gesetzlichen Rahmenbedingungen in Deutschland gewisse Vorschläge nicht möglich sind. Pflegeberufen ist es ja im Grunde untersagt, selbständig pflegefachlich zu handeln. Es wird zwar immer wieder auch in der Kommission formuliert, dass die Pflegeberufe in den Krankenhäusern relevant sind, und ich glaube auch, dass diese Äußerungen ehrlich gemeint sind, aber in die Tiefe der Möglichkeiten, Pflegefachberufe in die Krankenhausversorgung zu integrieren, so wie es international üblich ist, kommen wir nicht.
Eine weitere Herausforderung ist sicherlich, dass ich die einzige Wissenschaftlerin mit diesem Hintergrund bin. Eine Person allein macht ja keinen Sommer. Darüber hinaus müssen wir abwarten, ob und wie die Vorschläge in Gesetzform eingegossen und vom Parlament auch verabschiedet werden.
Nun zu den Vorteilen: ich denke, dass ein Vorteil ist, dass ein kritischer wie auch hartnäckiger Geist wie ich, immer wieder versucht, die Themen der Pflegeberufe, die wissenschaftliche Evidenz etc. in die Diskussion zu bringen. Der andere Vorteil ist, dass in den Reformvorschlägen auch gleichzeitig Möglichkeiten aufgezeigt werden, akademisierte Pflegefachberufe zu integrieren und sie zu fördern, auch wenn wir die Möglichkeiten längst nicht ausschöpfen. Es werden auch Hindernisse aufgezeigt, wie beispielsweise der Arztvorbehalt, der autonome Aufgabenbereiche von qualifizierten Pflegefachberufen zunächst verhindert und dass diese gelöst werden müssen.
Sehr gerne würde ich das Pflegebudget noch kritisch diskutieren. Dieses soll unangetastet bleiben. Aber leider setzt es Anreizsysteme, die nicht zwingend positiv für die Pflegeberufe und pflegerische Versorgung im Krankenhaus sind. Dem Pflegebudget fehlt ein Verständnis von pflegefachlicher Versorgung und integriert nicht die internationale Evidenz.
Aber da wir noch abwarten müssen, welche Vorschläge überhaupt in Gesetzesform übergehen, gehe ich ganz realistisch davon aus, dass die Auswirkungen für die Pflegeberufe im Krankenhaus marginal sind.
TK: Wie können pflegende Angehörige besser unterstützt werden?
Prof. Hasseler: Die Pflegeversicherung baut historisch auf der Idee auf, dass gemäß dem Subsidiaritätsprinzip zuerst im häuslichen Umfeld versorgt wird.
Die Kernsäule der Pflegeversicherung ist die häusliche Versorgung durch pflegende Angehörige. Salopp formuliere ich immer: die Idee der Pflegeversicherung ist, dass irgendeine Frau schon zu Hause bleibt. Die ambulanten Leistungen der Pflegeversicherung können auch nur als unvollständiger Ersatz der Angehörigenpflege eingekauft werden, aber nicht als Ergänzung.
Und damit sind wir beim großen Problem der Pflegeversicherung: sie zahlt nicht eine bedarfsangemessene berufliche-pflegerische Versorgung. Pflege- und Unterstützungsbedarfe werden an keiner Stelle der Pflegeversicherung ermöglicht, noch werden sie irgendwo erhoben. Pflegende Angehörige müssen nach diesem Prinzip der Pflegeversicherung in eine physische und psychische Überlast geraten. Wir benötigen also, um die pflegenden Angehörigen entlasten zu können, ein berufliches Leistungsrecht für Pflegeberufe, das die Pflegeberufe als Leistungserbringer definiert und auch die Grundlagen legt, dass sie beruflich-pflegerische Leistungen erbringen dürfen.
Im Weiteren muss es möglich werden, auf pflegefachlicher Ebene Unterstützungs- und Pflegebedarfe zu erheben und diese eigenständig zu rezeptieren. Des Weiteren müssen die möglichen Leistungen im SGB XI erweitert werden.
Mit diesem Ansatz wäre der Medizinische Dienst auch nicht mehr erforderlich, um die Pflegebedürftigkeit zu erheben. Derzeit wird nur die Pflegebedürftigkeit im Verständnis des SGB XI ermittelt, um einen Anspruch auf einen Pflegegrad und damit die limitierten Leistungen der Pflegeversicherung zu ermöglichen. Wenn es nun möglich wäre, dass Pflegefachberufe mit standardisierten Erhebungsinstrumenten die Pflegebedarfe erheben, in eine standardisierte Sprache überführen und codieren, wäre der Medizinische Dienst obsolet, weil ja nach Pflegebedarfskriterien Leistungsansprüche definiert werden können.
Ein weiteres relevantes Thema ist die Vereinbarung von Beruf und häuslicher Pflege eines Angehörigen. Nicht wenige pflegende Angehörige sind berufstätig und müssen wegen der Übernahme von Familienpflege entweder ihre Arbeitszeit reduzieren oder die Arbeitstätigkeit aufgeben. Beide Varianten haben erhebliche Konsequenzen für pflegende Angehörige zur Folge.
Die meisten Menschen arbeiten in kleine und mittelständische Unternehmen, die die Familienpflege noch nicht auf der Agenda haben oder auch über wenige Möglichkeiten verfügen, ihre Arbeitnehmenden im Falle einer Angehörigenpflege zu unterstützen. Wir lassen in diesem Land definitiv die Angehörigen und die Pflegebedürftigen allein.
Aufgrund der immer wieder belegten hohen Belastungen von pflegenden Angehörigen erscheint es evident, das Leistungsportfolio im Kontext des SGB XI differenzierter zu gestalten.
Des Weiteren benötigen wir zugehende Konzepte von Pflegefachberufen, damit Belastungen und Bedarfe frühzeitig detektiert werden. Es muss möglich werden, den Angehörigen frühzeitig differenzierte Leistungen und Maßnahmen anzubieten, auch im Sinne einer Prävention und Gesundheitsförderung.
Darüber hinaus müssen bevölkerungsgruppenorientierte digitale Tools entwickelt werden, die die häusliche Pflege der pflegenden Angehörigen unterstützen können. Die Kombination von zugehenden Ansätzen und digitalen Tools könnten das Potenzial entfalten, pflegende Angehörige zu unterstützen (zum Beispiel Telenursing).
Allerdings muss allen klar sein, dass der demografische Wandel auch für pflegende Angehörige gilt. Diese Ressource, die man strukturell verankert im SGB XI als Umsonstleistung beziehungsweise Eigenleistung der pflegenden Angehörigen genutzt hat, wird ebenso zum Erliegen kommen. Digitale Tools allein werden dieses Problem nicht beheben können.
Zur Person
Prof. Dr. habil. Martina Hasseler ist Professorin an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Fakultät Gesundheitswesen, Pflege-, Gesundheits- und Rehabilitationswissenschaftlerin. Studiert und promoviert hat sie an der Universität Osnabrück, habilitiert an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.