Noch etwa ein Jahr bleiben Minister Lucha und der aktuellen Landesregierungskoalition zur gesundheitspolitischen Gestaltung, bevor der Wahlkampf wieder beginnt und Projekte erfahrungsgemäß schwieriger umgesetzt werden können. Ein guter Zeitpunkt, um Zwischenbilanz zu ziehen, und einen Blick auf die wichtigsten verbleibenden Ziele zu werfen. Nadia Mussa, Leiterin der TK-Landesvertretung, analysiert die bisherigen Entwicklungen und Top-Themen aus Sicht der TK im Land. 

TK: Frau Mussa, in der Gesundheitspolitik gibt es derzeit zahlreiche Baustellen, welche sollte im Land vorrangig bearbeitet werden?

Nadia Mussa: Eines der wichtigsten Themen dieser Legislaturperiode ist die Weiterentwicklung der Krankenhausplanung in Baden-Württemberg. Da passt es sehr gut, dass auch der Bund die Krankenhausstrukturen reformieren möchte. Baden-Württemberg hat als Vorsitzland der Gesundheitsministerkonferenz intensiv an der bundesweiten Krankenhausreform mitgearbeitet und die Anfangszüge der Reform waren vielversprechend. Qualitätsbasierte Strukturen, bundesweite Vergleichbarkeit und die Sicherung bedarfsnotwendiger Vorhaltungen als wesentliche Inhalte sind absolut richtig. Mittlerweile ist allerdings unklar, ob diese Ziele noch erreicht werden können. Wir  nähern uns einem Kipppunkt, ab dem die Sinnhaftigkeit der aktuellen bundesweiten Reform in Frage gestellt werden muss. Umso wichtiger und begrüßenswert sind die derzeitigen Bestrebungen des Landes, den Landeskrankenhausplan zukunftsfähig aufzustellen und das Kernelement der geplanten Krankenhausreform, die Leistungsgruppen, umzusetzen.

Nadia Mussa

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Leiterin der TK Landesvertretung Baden-Württemberg

Im Koalitionsvertrag hat sich Grün-Schwarz eine nachhaltige, digitale, inklusive und sektorenübergreifende Weiterentwicklung der Krankenhausplanung vorgenommen, orientiert an regionalen und überregionalen Versorgungsbedarfen. Bisher fördert die Landesregierung insbesondere Projekte, um die Strukturen voran zu bringen. Es kommt nun darauf an, nachhaltige Rahmenbedingungen zu schaffen und Chancen zu ergreifen. 

Es kommt nun darauf an, nachhaltige Rahmenbedingungen zu schaffen und Chancen zu ergreifen. Nadia Mussa

Konkret könnten für digitale Kooperationsleistungen zwischen Krankenhäusern strategisch die Weichen gestellt werden. Die Kassen können mit ihrer Expertise sehr gut unterstützen. Dieses Potential wird bisher noch nicht ausreichend genutzt. Die Krankenkassen sollten engmaschig in den Prozess eingebunden werden. Ob die Neugestaltung des Landeskrankenhausplans überzeugend gelingt, wird der zentrale gesundheitspolitische Prüfstein dieser Landesregierung sein.

TK: Auch die ambulante Versorgung in ihrer derzeitigen Form gilt als nicht zukunftsfähig. Wo sollte die Politik hier ansetzen?

Mussa: Ein Drittel der niedergelassenen Medizinerinnen und Mediziner ist bereits über 60 Jahre alt und wird in absehbarer Zeit in Ruhestand gehen. Die nachfolgende Ärztegeneration arbeitet anders und viele Ärztinnen und Ärzte arbeiten heute auch in Teilzeit. Viele weitere Paramenter tragen dazu bei, dass die ambulante Versorgung in Zukunft anders aussehen wird. Die ärztlichen und nicht ärztlichen Professionen müssen künftig anders zusammenarbeiten, um den Ärztemangel zu kompensieren und die Arbeitsplätze der nicht ärztlichen Fachkräfte wesentlich attraktiver zu gestalten. 

Baden-Württemberg erprobt bereits seit einigen Jahren mit Primärversorgungszentren auf Modellbasis ein anderes und vernetztes Arbeiten und hat sich in dieser Legislaturperiode intensiv auf Bundesebene für eine gesetzliche Grundlage eingesetzt. Wenn im aktuellen Gesetzgebungsverfahren auf Bundesebene hierzu doch noch eine Regelung Eingang finden würde, wäre dies ein nennenswerter Erfolg für das Land. 

Primärversorgungszentren bieten Chancen. Allerdings sollten sie strikt bedarfsorientiert geplant und vorrangig in Regionen mit schwieriger Versorgungslage eingesetzt werden. 

TK: Die TK setzt große Hoffnung auf eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung durch die Digitalisierung. Trifft sie damit im Land auf offene Ohren?

Mussa: Beim Thema Digitalisierung hat sich die Landesregierung im Koalitionsvertrag das ehrgeizige Ziel gesetzt, Baden-Württemberg zum Vorreiter der Digitalisierung im Gesundheitswesen zu machen. Dazu sollen zahlreiche Digitalisierungs- und Vernetzungsprojekte vorangetrieben und die Strategie zur Digitalisierung in Medizin und Pflege weiterentwickelt werden. Baden-Württemberg hat mit über 50 geförderten Modellprojekten viele wertvolle Erfahrungen gesammelt. Nun gilt es, stärker in die flächendeckende Anwendung zu kommen. Wir dürfen nicht in Einzelprojekten denken, sondern in Strukturen und Standardprozessen - und zwar vernetzt und interoperabel. Durch die Digitalgesetze, die Baden-Württemberg im Bundes-Gesetzgebungsprozess erfolgreich begleitet hat, werden wir einen großen Schub erfahren. 

Ein weiteres erfolgreiches Beispiel ist das Landeskompetenzzentrum PflegeDigital@BW als zentrale Beratungs-, Vernetzungs- sowie Lern- und Lerninstitution für die Digitalisierung in der Pflege. Denn durch dauerhaft finanzierte Strukturmaßnahmen kann Innovation breiter und nachhaltiger in der Versorgung ankommen, als durch eine Vielzahl von Einzelprojekten. Deshalb bringen wir uns dort auch aktiv ein. 

TK: Es gibt also vielfältige gute Vorhaben, die allesamt auch Geld kosten. Wie kann die Gesundheitspolitik im Land zur nachhaltigen Finanzierung der Sozialversicherungen beitragen?

Mussa: Eine nachhaltige Finanzierung der Sozialversicherungen war im Koalitionsvertrag der grün-schwarzen Regierung zwar nur hinsichtlich der Pflege ein Thema, aber auch bei der GKV ist ein Umsteuern nötig. Wir stellen fest, dass sich der Staat zunehmend aus der Verantwortung für gesamtgesellschaftliche Ausgaben herauszieht und sie stattdessen den Beitragszahlenden aufbürdet. Der geplante Transformationsfonds für die Krankenhausreform ist nur ein besonders eklatantes Beispiel dafür. 

Es war ein wichtiges Signal aus Baden-Württemberg, dass sich Minister Lucha wiederholt und nachdrücklich für eine auskömmliche Finanzierung von Bürgergeldempfangenden durch den Bund eingesetzt hat. Aber auch hier im Land gibt es Tendenzen, den eigenen Haushalt auf Kosten der Beitragszahlenden zu entlasten, beispielsweise im aktuellen Rettungsdienstgesetz. Wir müssen alle gemeinsam an einer stabilen und nachhaltigen Finanzierung der GKV arbeiten, alles andere ist einseitig und nicht zukunftsfähig.
 

TK: Was erhoffen Sie sich von Grün-Schwarz mit Blick auf die restliche Zeit dieser Legislatur?

Mussa: Ein gutes Jahr bis zum Start des Wahlkampfes ist kein üppiger Zeitraum mehr für grundlegende gesundheitspolitische Akzente. Allerdings ist die Landesregierung - anders als zu Beginn der Legislaturperiode - nicht mehr mit der akuten Bewältigung der Pandemie gebunden. Die Kräfte können nun fokussiert und gebündelt eingesetzt werden. Ich erwarte daher noch einige interessante Impulse für die Gesundheitspolitik.

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