"Ein leistungsfähiges Gesundheitssystem braucht eine stabile und solidarische Finanzierung"
Interview aus Niedersachsen
Marja-Liisa Völlers ist Bundestagsabgeordnete für Schaumburg und Nienburg und seit 2017 im Deutschen Bundestag. Dort sitzt sie neben dem Ausschuss für Gesundheit auch im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung.
Die Digitalisierung im Gesundheitswesen hat Fahrt aufgenommen, braucht aber gerade in Niedersachsen noch mehr Tempo.
Das bedeutet aber auch, dass wir einen zeitgemäßen Umgang mit Daten, der Patientinnen und Patienten Chancen auf bessere Versorgung eröffnet, brauchen.
Das deutsche Gesundheitssystem steht vor der Herausforderung neben steigenden Ausgaben und teilweise noch unklaren finanziellen Folgen der Pandemie auch eine zunehmend schwierigere Einnahmensituation zu meistern.
TK: Die Souveränität und selbstbestimmte Teilhabe von Patientinnen und Patienten gewinnt auch durch die Digitalisierung an Bedeutung. Wie will die SPD digitale Gesundheitskompetenz und gesundheitliche Bildung fördern?
Marja-Liisa Völlers: Für uns in der SPD ist für die Förderung von digitaler Gesundheitskompetenz und gesundheitlicher Bildung im Rahmen der Alpha-Dekade bis 2026 zentral. Die Alpha-Dekade ist einzigartig innerhalb der Europäischen Union und zeigt die Ambitionen der Bundesregierung, der Länder sowie der mittlerweile 17 Dekade-Partner die fünf Hauptziele umzusetzen, um damit die Kompetenzen funktionaler Analphabetinnen und Analphabeten zu erweitern. Die Alpha-Dekade 2016 bis 2026 ist ein Meilenstein im Kampf gegen geringe Lese- und Schreibfähigkeit und eine große Errungenschaft für den kontinuierlichen Ausbau von Grundbildungsangeboten in der Bundesrepublik. Ausgehend von der andauernden Corona-Pandemie muss nun auch die gesundheitsorientierte Grundbildung in den Fokus rücken. Denn gerade mangelnde Kompetenzen können auch im Gesundheitsbereich zu großen Risiken führen. Diese gilt es abzufedern.
Wir in der SPD fordern darüber hinaus die Alpha-Dekade nach folgenden Gesichtspunkten weiterzuentwickeln: Zum einen muss zusätzlich zu den Projektschwerpunkten der arbeitsplatzorientierten und lebensweltorientierten Grundbildung im Rahmen der Dekade eine Fokussierung auf die gesundheitsorientierte Grundbildung gelegt werden. Viele Rezepte, Diagnostika oder schriftliche Informationen zu Krankheiten oder zur Pflege von Angehörigen sind für Personen mit geringer Lese- und Schreibfähigkeit häufig nicht verständlich - und das nicht nur während der Corona-Pandemie. Dazu gehören beispielsweise auch die Packungsbeilagen von Arzneimitteln. Diese müssen barrierefrei und in einfacher Sprache verfasst sein. Darüber hinaus muss digitales Lernen im Grundbildungs- und Alphabetisierungsbereich ausgebaut werden. Die Erfahrungen während der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass es einen deutlich verstärkten Zugriff auf Lernangebote über digitale Lernplattformen, wie z.B. das Lernportals der Volkshochschulen gegeben hat. Hier liegen Potentiale, an die - unabhängig von der Pandemie - anzuknüpfen ist. Auch wegen der Niedrigschwelligkeit des Zugangs müssen digitale Kursangebote weiterentwickelt und geräteübergreifend zugänglich gemacht werden. Digitale Kursangebote sollten dabei möglichst kostenfrei sein und das erfolgreiche Absolvieren durch Zertifikate und ggf. durch digitale Badges nachweisbar gemacht werden.
Zudem hat die Corona-Krise gezeigt: Der öffentliche Gesundheitsdienst braucht bessere Rahmenbedingungen, eine bessere Ausstattung, auch mit Blick auf die digitale Infrastruktur - Hardware ebenso wie Software, und eine konkurrenzfähige Vergütung. Dann kann auch dessen sozialpolitisch wichtigste Aufgabe, die wirtschaftlich Schwächeren in Gesundheitsfragen zu unterstützen, besser gemeistert werden.
Wir wollen Datenschutz gewährleisten und geeignete Rahmenbedingungen, damit nicht die großen Plattformen auch die Gesundheitswirtschaft dominieren. Für uns ist aber klar, dass die Digitalisierung unser hervorragendes und engagiertes medizinisches, psychotherapeutisches und pflegerisches Personal nicht ersetzen wird. Hinter guter medizinischer und psychotherapeutischer Versorgung und Pflege stehen immer Menschen. Damit vom Pfleger bis zur niedergelassenen Ärztin alle die digitale Transformation bewältigen können, sind flächendeckende Weiterbildungs- und Unterstützungsangebote unerlässlich. Wir wollen zudem dem Schutz der Patientendaten höchste Priorität einräumen.
Seit Anfang dieses Jahres können bereits alle gesetzlich Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) ihrer Krankenkassen erhalten. Mit dieser patientengeführten Akte werden die eigenen Daten nun auch für jeden selbst nutzbar und stehen zur Verfügung, wenn man sie braucht. Der Patient wird zum Zentrum seiner eigenen Gesundheitsversorgung und zum Souverän seiner Daten. Damit ist ein erster Schritt getan, um die Bürgerinnen und Bürger in ihrer digitalen Gesundheitskompetenz zu fördern.
TK: Mit welchen Konzepten will die SPD gesundheitliche Prävention und Vorsorge weiterentwickeln?
Völlers: Unser System ist bislang zu stark auf die Versorgung im Krankheitsfall und damit auf die Wiederherstellung der Gesundheit und auch der Erwerbsfähigkeit ausgerichtet. Die Ausgaben für die Gesunderhaltung, also Prävention, betragen derzeit geringe 0,2-0,25 Prozent. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Das gemeinsame Ziel muss auch eine aktive Strategie zur Gesundheitserhaltung sein. Hierbei können neuen Technologien sehr hilfreich sein.
Dabei muss die Gesundheitsvorsorge am Individuum ausgerichtet werden: Frauen, Männer und Kinder haben besondere gesundheitliche Bedürfnisse, die bei ihrer Gesundheitsversorgung und der Prävention berücksichtigt werden müssen. Doch die Gesundheitsforschung, Ausbildung und Versorgungspraxis orientieren sich zumeist an Daten von weißen, männlichen erwachsenen Testpersonen - das werden wir ändern. Wir werden darüber hinaus Programme in den Bereichen Prävention und Krankheitsfrüherkennung fördern, die die Besonderheiten verschiedener Altersgruppen und Geschlechter berücksichtigen.
Darüber hinaus wollen wir in Betrieben die gesundheitliche Weiterbildung unterstützen. Dabei kommt der Gesundheitsprävention eine zentrale Bedeutung zu. Dafür wollen wir die Aktivitäten der unterschiedlichen Sozialversicherungen für Betriebe und Beschäftigte bündeln.
TK: Der finanzielle Druck in der GKV steigt durch ausgabenträchtige Reformen und Lasten der Corona-Pandemie. Mit welchen strukturellen Reformen will die SPD eine nachhaltige Finanzierung der GKV gewährleisten?
Völlers: Das Gesundheitssystem braucht wieder mehr politische Aufmerksamkeit und Reformen. Wir brauchen ein klares Leitbild für die nächsten Jahrzehnte.
Ein leistungsfähiges Gesundheitssystem braucht eine stabile und solidarische Finanzierung. Steuerzuschüsse und Investitionsmittel sollten mit klaren Zielvorgaben für die Reform des Systems verbunden werden. Wir werden eine Bürgerversicherung einführen. Das bedeutet: Gleich guter Zugang zur medizinischen Versorgung für alle, eine solidarische Finanzierung und hohe Qualität der Leistungen. Gesundheit ist keine Ware, deshalb müssen in unserem Gesundheitssystem die Bürgerinnen und Bürger im Mittelpunkt stehen. Der Staat muss deshalb sicherstellen, dass die Leistungen der Gesundheitsversorgung den Bedürfnissen derer entsprechen, die sie benötigen.
Die Sozialversicherungen sind ein wichtiger automatischer Stabilisator in Krisenzeiten. Daher wäre es sozial und ökonomisch falsch, angesichts steigender Ausgaben die Sozialleistungen zu kürzen. Zugleich wollen wir im Interesse der Beschäftigten sowie der Unternehmen die Sozialversicherungsbeiträge in den Jahren 2020 und 2021 bei maximal 40 Prozent stabilisieren. Dazu wird der Bund etwaige Finanzbedarfe aus dem Bundeshaushalt decken.
Die Deckelung wurde maßgeblich von Bundesfinanzminister Olaf Scholz vorgebracht, verhandelt und möglich gemacht. Dieser wird sich im Schulterschluss mit der restlichen Bundes-SPD auch weiterhin dafür einsetzen. In unseren steuerlichen Plänen für die nächste Legislatur spiegelt sich dies auch wider. Hier wollen wir die oberen fünf Prozent stärker besteuern, kleine und mittlere Einkommen dagegen entlasten, insbesondere auch von den Sozialabgaben.
Darüber hinaus wollen wir die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen beenden, denn sie wirkt sich negativ auf die Versorgung der Patientinnen und Patienten und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten aus. Gewinne, die aus Mitteln der Solidargemeinschaft erwirtschaftet werden, sollen verpflichtend und weitestgehend wieder in das Gesundheitssystem zurückfließen. Wir stärken die Kommunen bei der Einrichtung und beim Betreiben der integrierten medizinischen Versorgungszentren. Das System der Fallpauschalen werden wir auf den Prüfstand stellen, die Pauschalen überarbeiten und wo nötig abschaffen.
Die Grundkosten der Krankenhäuser und der integrierten medizinischen Versorgungszentren werden wir angemessen finanzieren. Bei der Stärkung des Gemeinwohls spielen öffentliche Krankenhäuser eine zentrale Rolle.