"Pflegefachkräften kommt für die Einführung und Nutzung von Telemedizin eine Schlüsselrolle zu."
Interview aus Thüringen
Margit Benkenstein kennt aus vielen Jahren eigener Erfahrung die Nöte in der Altenpflege - sowohl aus den eigenen Einrichtungen als auch durch den ständigen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Im Interview spricht sie unter anderem über die Fachkräftesituation in Thüringen und darüber, wie herausfordernd die Coronapandemie für die Altenpflege ist. Thema ist auch, wie die Digitalisierung dabei hilft, dass Pflegebedürftige länger zu Hause versorgt werden können.
TK: Aus welchen Gründen entscheiden sich Menschen für den Pflegeberuf?
Margit Benkenstein: Am meisten freuen wir uns natürlich über junge Menschen, die nach einem Schülerpraktikum und dem Realschulabschluss in unseren Pflegediensten und Heimen eine Ausbildung beginnen. Die sind regional verwurzelt, hoch motiviert und die Chance, dass sie auf Dauer als Fachkräfte in den Ausbildungsbetrieben bleiben, ist groß.
Ähnlich ist es bei Quereinsteigern, die - vielleicht weil sie schon einmal Angehörige gepflegt haben, oder zeitweise arbeitslos waren - als Hilfskräfte bei uns beginnen. Wenn die nach einigen Jahren merken, das ist mein Ding, bieten wir ihnen gern die Möglichkeit, zur Pflegefachkraft umzuschulen.
Immer spielt auch eine Rolle, mit Menschen zu arbeiten, helfen zu wollen. In den letzten Jahren kommt dazu, dass es sich um einen krisensicheren und gut bezahlten Job handelt. Die Ausbildungsvergütung liegt inzwischen deutlich über 1000 Euro und als Berufseinsteiger kann man bei uns 3200 Euro verdienen, plus Zuschläge. Da die Nachfrage nach professionellen Pflegeleistungen in den nächsten Jahrzehnten weiter steigen wird, muss keine Pflegefachkraft Angst um ihren Job haben.
Wir bilden in Thüringen mehr aus als je zuvor, aber die Situation hat sich in Thüringen, aber auch in ganz Deutschland noch einmal deutlich zugespitzt.
TK: Anfang 2018 sagten Sie in einem Interview, beim Fachfachkräftemangel in der Thüringer Altenpflege sei es nicht fünf vor zwölf, sondern deutlich nach zwölf. Wie schätzen Sie die Lage heute ein?
Benkenstein: Wir bilden in Thüringen mehr aus als je zuvor, aber die Situation hat sich in Thüringen, aber auch in ganz Deutschland noch einmal deutlich zugespitzt. Ein Grund dafür ist, dass die Krankenhäuser aufgrund gesetzlicher Vorgaben in erheblichem Umfang neue Stellen im Pflegebereich schaffen müssen und dafür durch die Krankenkassen großzügig mit zusätzlichen finanziellen Mitteln ausgestattet werden. Unsere Pflegedienste und Heime sind auf dem Arbeitsmarkt natürlich deutlich im Nachteil wenn Krankenhäuser viele tausend Euro Prämie anbieten, um Fachkräfte abzuwerben.
TK: Was hat die Coronapandemie an der Situation verändert?
Benkenstein: Die Lage war und ist seit Anfang letzten Jahres absolut herausfordernd für Pflegekräfte. Die zusätzlichen Hygieneanforderungen im Alltag, selbst wenn es in der Einrichtung kein akutes Infektionsgeschehen gibt, rauben viel Kraft. Und dann die zusätzlichen Belastungen, wenn Pflegebedürftige erkranken, wenn Kolleginnen und Kollegen ausfallen, weil sie als Kontaktpersonen unter Quarantäne stehen oder selbst erkrankt sind.
Auch wir als verantwortliche Betreiber sind durch viele, sich ständig ändernde Regelungen an Grenzen gekommen. Als Berufsverband hatten wir zudem alle Hände voll zu tun, in Gesprächen mit Regierung und Abgeordneten auf richtige Weichenstellungen zu dringen, was mal geklappt hat und mal nicht.
Das Landesamt für Statistik rechnet mit einem Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen in Thüringen auf 150.000 bis zum Jahr 2040.
TK: Die Zahl der Beschäftigten in der Pflege steigt in Thüringen seit Jahren. Gleichzeitig wächst der Bedarf an pflegerischer bzw. altenpflegerischer Versorgung noch schneller. Ist die Demografie also zentraler Aspekt des Fachkräfteproblems?
Benkenstein: Ja, das ist richtig. Bedenken Sie, dass in Thüringen inzwischen etwa 100.000 Menschen pflegebedürftig sind. Das heißt fast jedem 20. Menschen in Thüringen wurde in einem aufwendigen Begutachtungsverfahren durch den Medizinischen Dienst ein Pflegegrad zuerkannt, weil er oder sie in seiner Mobilität oder kognitiv - etwa durch eine demenzielle Erkrankung - eingeschränkt ist und unterstützende Leistungen der Pflegeversicherung benötigt.
Der Trend beim demographischen Wandel bleibt. Die geburtenstarken Jahrgänge kommen in den nächsten Jahrzehnten erst noch in das Alter in dem die Pflegebedürftigkeit steigt. Das Landesamt für Statistik rechnet mit einem Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen in Thüringen auf 150.000 bis zum Jahr 2040.
Realistischerweise müssen wir davon ausgehen, dass die Unterstützung durch pflegende Angehörige eher weiter abnimmt. Immer weniger Menschen leben in Thüringen in Mehrgenerationenhaushalten zusammen. Häufig sind die Kinder der Pflegebedürftigen aus beruflichen Gründen in andere Orte gezogen. Das ist einer der Gründe, aus denen nur noch Wenige die Zeit haben, ihre Angehörigen zu pflegen. Das war vor 20 Jahren anders.
Neben den pflegenden Angehörigen haben wir in Thüringen heute schon 35.000 professionelle Pflege-, Betreuungs- und Hauswirtschaftskräfte, die Pflegebedürftige im Alltag so versorgen, dass sie auch am Lebensende eine möglichst hohe Lebensqualität haben.
So wie die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, benötigen die etwa 500 ambulanten Pflegedienste in Thüringen, die professionelle Pflege in den Wohnungen der Pflegebedürftigen leisten, mehr Personal. Genauso werden die fast 200 Tagespflegen und fast 400 Pflegeheime für eine teil- und vollstationäre Versorgung auf Dauer nicht ausreichen.
Viele Menschen können heute auf einen Umzug in ein Pflegeheim verzichten, weil es passende barrierefreie Wohnungen gibt und Wohngemeinschaften mit Betreuungsangeboten.
TK: Welche Wege sehen Sie, dem zu begegnen?
Benkenstein: Natürlich entwickelt sich die Pflegebranche mit ihren Angeboten immer weiter und kann auf die konkreten Bedürfnisse der Menschen noch zielgenauer eingehen. So können viele Menschen heute auf einen Umzug in ein Pflegeheim verzichten, weil es passende barrierefreie Wohnungen gibt und Wohngemeinschaften mit Betreuungsangeboten. Da braucht man in vielen Fällen nicht das All-inclusive-Angebot im Heim. Hier genügt es, wenn dem jeweiligen Bedarf entsprechend der Pflegedienst kommt. Auch mein Pflegedienst versorgt inzwischen Menschen in vier Wohngemeinschaften.
TK: Welche Rolle spielt dabei technische oder digitale Unterstützung?
Benkenstein: Mit Blick auf die Lebensqualität von Pflegebedürftigen wird die wachsende Bedeutung von telemedizinischen Modulen in der Versorgung zurecht hervorgehoben. Diese Technik wird insbesondere bei der Versorgung von immobilen und multimorbiden Menschen benötigt, die häufig in Pflegeheimen leben oder von ambulanten Pflegediensten versorgt werden.
Wenn in Thüringen eine telemedizinische Testregion im ländlichen Raum eingerichtet werden soll, dann müssen [...] unbedingt auch die Pflegeverbände mit dabei sein.
Altersbedingt und aufgrund ihres Gesundheitszustandes werden viele von ihnen die neue Technik kaum selbst erfolgreich anwenden können. Pflegefachkräften kommt für die erfolgreiche Einführung und Nutzung von Telemedizin eine Schlüsselrolle zu. Bislang ist in diesem Bereich in Thüringen allerdings noch nicht viel erreicht worden.
Wenn in Thüringen - der Landtag berät das gerade - eine telemedizinische Testregion im ländlichen Raum eingerichtet werden soll, dann müssen neben der Landesärztekammer, der Kassenärztlichen Vereinigung, Kliniken und Kassen unbedingt auch die Pflegeverbände mit dabei sein. Nur so kann das Vorhaben erfolgreich sein.
Der Ausbau der Telematikinfrastruktur bezieht in den nächsten Jahren auch die Pflege mit ein. Ambulante Pflegedienste sollen die sogenannte Datenautobahn mit der entsprechenden technischen Ausstattung nutzen können. Seit Mitte dieses Jahres können sich zunächst Pflegeeinrichtungen freiwillig anbinden lassen, ab 2024 ist eine verpflichtende Anbindung für die ambulante und stationäre Pflege geplant.
Letztlich bietet die Digitalisierung eine zusätzliche Möglichkeit, die Versorgung trotz deutlich steigender Zahlen pflegebedürftiger Menschen zu sichern. Pflegekräften und Einrichtungen wird die Gelegenheit geboten, sich nicht nur von bürokratischen Prozessen sowie dem kleinteiligen Sammeln von Informationen zu entlasten, sondern auch die Kommunikation, beispielsweise mit Ärzten und Apotheken, deutlich zu vereinfachen.
Arztvisiten in Pflegeheimen können als telemedizinische Leistungen durchgeführt, Sensoren können zum Schutz und zur Unterstützung der Pflege der Bewohner eingesetzt oder einfache Tätigkeiten durch die fortschreitende Robotik technikgestützt durchgeführt werden.
Daneben bieten technische Assistenzsysteme oder Hilfsmittel für Pflegebedürftige in der Häuslichkeit eine Chance, länger in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Pflegediensten bieten sich, zum Beispiel mit Video-Telefonie zur Betreuung und psychosozialen Begleitung, neue Leistungsbereiche.
Letztlich bietet die Digitalisierung eine zusätzliche Möglichkeit, die Versorgung trotz deutlich steigender Zahlen pflegebedürftiger Menschen zu sichern.
All dies funktioniert am besten, wenn die Entwicklungen nicht unabhängig voneinander vorangetrieben werden, sondern im Planungsprozess frühzeitig alle für die medizinische und pflegerische Versorgung relevanten Akteure einbezogen werden.
TK: In der jüngeren Vergangenheit wurde mit verschiedenen Gesetzen und Maßnahmen auf Landes- und Bundesebene versucht, die Pflege zu stärken. Was davon hatte bei Ihnen in der Praxis konkrete positive Auswirkungen?
Benkenstein: Positiv hervorheben möchte ich den während der Coronapandemie geschaffenen Pflegerettungsschirm. Durch diesen werden den Pflegediensten und -einrichtungen die durch Corona entstandenen Mehrkosten und Mindereinnahmen unbürokratisch erstattet. Dazu gehören etwa die persönliche Schutzausrüstung oder die entgangenen Pflegesätze, wenn eine Tagespflege über Monate geschlossen bleiben musste. So konnte die Pflegeinfrastruktur erhalten werden.
Auch der Ausbau der Leistungsansprüche der Pflegebedürftigen verbessert deren Situation, auch wenn er angesichts des allgemeinen Preisanstiegs durch höhere Lohnkosten deutlich zu gering ausfällt. Die gesetzlich schon festgelegte Verbesserung der Personalausstattung soll in den nächsten Jahren zur Entlastung der Beschäftigten in der Pflege beitragen. Das ist gut. Allerdings ist noch völlig unklar, woher das dafür benötigte Personal kommen soll.
Mit der sogenannten kleinen Pflegereform aus dem Sommer (GVWG) werden kleine und mittlere Familienunternehmen in der Pflege in ihrer Existenz bedroht. Wir hoffen daher auf den Erfolg der dagegen angestrengten Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.
Zur Person
Margit Benkenstein ist die Vorsitzende der Landesgruppe Thüringen des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa). Auf Bundesebene engagiert sie sich ehrenamtlich als Vizepräsidentin ihres Verbandes. Sie betreibt in Gerstungen einen Pflegedienst sowie ein Pflegeheim. Benkenstein kämpft gegen den Fachkräftemangel und setzt sich für gute Rahmenbedingungen der Pflege ein. Dazu zählt für sie ausdrücklich eine gute qualifizierte Ausbildung in der Altenpflege.