"Die beschlossene Mindestmenge von 25 ist bereits ein Kompromiss"
Interview aus Thüringen
Seit Monaten wird auch in der Thüringer Öffentlichkeit viel über die neue Mindestmenge für die Behandlung von sehr kleinen Frühgeborenen unter 1.250 Gramm diskutiert. Wir haben mit Prof. Dr. Ekkehard Schleußner, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin am Universitätsklinikum Jena und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin, gesprochen, der das Thema aus Sicht der Fachgesellschaft einordnet.
TK: Herr Prof. Dr. Schleußner, über welche Kinder sprechen wir bei Frühgeborenen unter 1.250 Gramm? Wie, wann und wie oft kommen sie zur Welt?
Prof. Dr. Ekkehard Schleußner: Wir sprechen Gott sei Dank über eine sehr kleine Zahl von Kindern, die weniger als ein halbes Prozent aller Geburten in Thüringen ausmacht.
Diese Kinder werden meist zwischen der 24. und 29. Schwangerschaftswoche geboren und bedürfen maximaler Intensivtherapie, um gesund zu überleben. Die allermeisten werden per geplantem Kaiserschnitt zur Welt gebracht. Eine Spontangeburt sollte verhindert werden, um die sehr empfindlichen Kinder nicht noch zusätzlichen Gefahren auszusetzen.
TK: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat Ende 2020 beschlossen, dass Krankenhäuser ab 2024 nicht mehr 14, sondern 25 dieser sehr Frühgeborenen im Jahr behandeln müssen, um weiter als sogenanntes Perinatalzentrum Level 1 zu gelten. Wie kam es dazu?
Prof. Schleußner: Es gibt einen ganz klaren und wissenschaftlich vielfach belegten Zusammenhang zwischen der Zahl der behandelten extremen Frühgeborenen und deren Überleben. Man kann eben am besten handeln, wenn man darin Routine hat - das weiß ja jeder aus seinem Alltag selbst - und nicht nur alle vier Wochen so ein Kind versorgen kann.
Die folgende Grafik aus der deutschen Perinatalerhebung zeigt, wie viele Todesfälle verhindert werden könnten, wenn solche extremen Frühgeburten in einem Perinatalzentrum betreut werden. Auf der senkrechten Achse stehen die potenziell vermeidbaren Todesfälle, auf der waagerechten die Mindestmenge für die Behandlung von Frühgeborenen unter 1.250 Gramm.
Wie man klar sieht, findet eine optimale Versorgung erst in Perinatalzentren mit 50 bis 60 extrem Frühgeborenen statt. Die Konsequenz daraus kann nur sein, dass zentralisiert wird.
Die beschlossene Mindestmenge von 25 ist bereits ein Kompromiss, also der kleinste gemeinsame Nenner, um die Landschaft der Level 1 Zentren in Deutschland nicht zu sehr auszudünnen. Bei einer Mindestmenge von 25 lässt sich ein erster Peak für vermeidbare Todesfälle in den deutschen Daten nachweisen.
TK: Wie wird sich die Zahl der sehr früh geborenen Kinder in Thüringen in den kommenden Jahren entwickeln?
Prof. Schleußner: Wie wir aus den Zahlen des Thüringer Landesamtes für Statistik (TLS) sehen können, hat die Zahl der Geburten in Thüringen seit 2017 dramatisch abgenommen - 2022 kamen 22 Prozent weniger Kinder zur Welt als fünf Jahre zuvor!
Die Serviceagentur Demografischer Wandel des Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft prognostizierten einen weiteren Geburtenrückgang. Damit wird es voraussichtlich auch immer weniger Frühgeburten geben, denn die Rate war in Thüringen in den vergangenen Jahren relativ konstant.
TK: Der Elefant im Raum, über den wir bis jetzt noch nicht gesprochen haben, ist das Perinatalzentrum in Suhl. Nach den bisherigen Zahlen sieht es aus, als könne es in Zukunft kein Level 1-Zentrum mehr sein. Wie stehen Sie dazu?
Prof. Schleußner: Das Klinikum Suhl hatte in den letzten Jahren zwischen 860 und 900 Geburten insgesamt und im Mittel 15 solcher extremen Frühgeburten. Durch den allgemeinen demographischen Trend in Thüringen und Deutschland ist eine weitere Abnahme sehr wahrscheinlich.
Doch wie kann man Eltern erklären, dass ihr extrem Frühgeborenes in einem größeren Perinatalzentrum bessere Überlebenschancen hätte? Die oberste Priorität muss die bestmögliche Qualität der Versorgung dieser besonders gefährdeten Kinder und deren Eltern sein! Dem müssen alle Verantwortlichen vor Ort, in der Konzernverwaltung und in politischer Verantwortung gerecht werden.
Das bedeutet aus meiner Sicht, dass das Perinatalzentrum in Suhl für Südthüringen erhalten bleiben muss - für gefährdete Kinder aus komplizierten Geburten, mit bestimmten Fehlbildungen, Mehrlingsschwangerschaften oder frühen Frühgeburten jenseits der 30. Schwangerschaftswoche und anderes mehr, was in einem Perinatalzentrum Level 2 geleistet wird. Die extrem kleinen Frühchen aber müssen in größeren Perinatalzentren zur Welt kommen.
Zur Person
Prof. Dr. Ekkehard Schleußner ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM) und Fachberater Geburtshilfe und Neonatologie bei der Landesärztekammer Thüringen. Zudem ist Schleußner Direktor der Klinik für Geburtsmedizin am Universitätsklinikum Jena.