Im Fokus: Notfallversorgung - neue Regierung erbt wichtiges Reformvorhaben
Interview aus Sachsen
Das Gesetz zur Reform der Notfallversorgung ist mit dem Ampel-Aus gescheitert, die Idee bleibt allerdings richtig und nach wie vor äußerst relevant. Das zeigen auch die Zahlen. Im Vergleich mit anderen Bundesländern musste der Rettungsdienst in Sachsen am häufigsten ausrücken; 2022 waren dies beispielsweise doppelt so viele Einsätze wie in Bremen.
Die Zahl der Rettungsdiensteinsätze hierzulande stieg laut Verband der Ersatzkassen (vdek) in den vergangenen zehn Jahren um etwa ein Fünftel, was auf verschiedene Ursachen zurückzuführen ist, wie hohes Durchschnittsalter im Freistaat, aktuelle Versorgungsstrukturen, ein ausgeprägtes Anspruchsdenken sowie abnehmende Gesundheitskompetenz von Patientinnen und Patienten.
Warum die nächste Bundesregierung die Notfallversorgung angehen muss, haben wir mit Alexander Krauß, Leiter der TK-Landesvertretung Sachsen, besprochen. "Die beschriebene Entwicklung, insbesondere auch bei uns in Sachsen, verdeutlicht die Notwendigkeit einer wirkmächtigen Reform, welche allerdings nur in Verbindung mit einer Reform des Rettungsdienstes gelingen kann. Es werden dringend bundeseinheitliche Struktur- und Qualitätsvorgaben beim Rettungsdienst benötigt. Diesen in das Sozialgesetzbuch zu integrieren wäre ein zweckmäßiger Schritt", so Krauß.
TK: Warum braucht es eine Reform der Notfallversorgung?
Alexander Krauß: Die Notwendigkeit bezweifelt wohl niemand, der im Bereich Notfallversorgung tätig ist. Das Thema stand auch bereits auf der politischen Agenda, konnte aber leider nach dem Bruch der Ampel-Koalition nicht mehr durchgebracht werden. Es braucht in diesem Bereich eine echte Strukturreform, um Versorgungsqualität sowie Effizienz in der Notfall- und Akutversorgung zu verbessern. Bislang mangelt es beispielsweise an effektiver Steuerung. Ohne strukturelle Reformen lassen sich gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen nicht angemessen bewältigen, wodurch sich eine patientenorientierte sowie bedarfsgerechte Versorgung kaum sicherstellen lässt. Aber genau diese zukünftige Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung muss das Ziel sein.
TK: Woran krankt das gegenwärtige System besonders?
Krauß: Da gibt es sicher mehrere Themenfelder, aber besonders problematisch sehe ich das Fehlen einer bedarfsgerechten, effektiven Patientensteuerung. Diese wäre absolut entscheidend und birgt viel positives Potenzial, um Notfallversorgung patientenorientierter und auch nachhaltig bezahlbar zu gestalten.
TK: Wie könnte diese Steuerung konkret aussehen?
Krauß: Viele von der Ampel-Regierung im Gesetzentwurf zur Notfallreform beschriebene Ideen waren gut. Ich halte beispielsweise die Integrierten Notfallzentren (INZ) nach wie vor für einen sehr zweckmäßigen Ansatz. Hierbei ist aber wichtig, dass es für die INZ oder ein vergleichbares Instrument detaillierte bundeseinheitliche Kriterien gibt, die vom G-BA erarbeitet werden sollten. Jede Patientin und jeder Patient sollten Klarheit über die Anlaufstellen haben beziehungsweise diese kennen und von dort in die Versorgung gesteuert werden, die passend ist. Hilfesuchende ohne akuten Behandlungsbedarf brauchen hingegen einen direkten Weg in die vertragsärztliche Regelversorgung, zum Beispiel über die Terminservicestellen. Alle tatsächlichen Notfälle müssen über den Rettungsdienst (112), eine durch die Kassenärztliche Vereinigung getragene Akutleitstelle (116117) beziehungsweise ein vergleichbares Instrument oder ein Krankenhaus mit INZ abgedeckt werden.
TK: Welche Maßnahmen könnten zusätzlich helfen?
Krauß: Hier spielen Digitalisierung und Vernetzung eine entscheidende Rolle. Die Stärkung von Telemedizin, also ein telefonisches beziehungsweise videounterstütztes Versorgungsangebot, kann im Falle einer guten Netzabdeckung nahezu ortsunabhängig zu einer gezielten, patientengerechten Versorgung beitragen.
TK: Halten Sie eine Reform des Rettungsdienstes tatsächlich für notwendig?
Krauß: Ja, unbedingt. Eine Reform der Notfallversorgung in Angriff zu nehmen, ohne gleichzeitig strukturelle Mängel im Rettungsdienst anzugehen, wäre zu kurz gesprungen. Zwischen beiden Systemen bestehen starke Wechselwirkungen. Aktuell gibt es einen Flickenteppich je nach Region ohne einheitliche Qualitätsvorgaben und Transparenz. Erschwerend kommt hinzu, dass es mangels richtiger Vertragsbeziehungen mit der gesetzlichen Krankenversicherung weder Anreize zu wirtschaftlichem Handeln noch zu Digitalisierung gibt; faktisch existiert bislang eine Ist-Kosten-Erstattung. Eine Reform des Rettungsdienstes heißt insbesondere auch eine Reform der Rettungsdienstleitstellen. Hier muss es darauf abzielen, einen bundeseinheitlichen Rahmen zu schaffen, der mindestens zu digitaler Vernetzung und Qualitätsstandards Vorgaben macht.
TK: Was wären Lösungsansätze im Rahmen einer Reform?
Krauß: Ein notwendiger Schritt hin zu einer Lösung und Verbesserung wäre die Integration des Rettungsdienstes ins SGB V. Dadurch ließen sich bundeseinheitliche Vorgaben zur Qualität etablieren. Ferner braucht es bundeseinheitliche Regeln zur Preisfindung im Rettungsdienst wie auch für Leerfahrten, etwa eine anteilige Vergütung sowie eine gemeinsame Kapazitätsplanung. Sofern positive Ergebnisse bezüglich Mehrnutzen und Wirtschaftlichkeit vorliegen, kann auf Erfahrungen aus Modellprojekten mit besonders qualifiziertem nicht-ärztlichen Personal wie auch Telemedizin zurückgegriffen werden.
TK: Hätten Sie einen Wunsch an die neue Regierung?
Krauß: Da würden mir sicher mehrere einfallen. Konkret und im Zusammenhang mit der Notfallversorgung wünsche ich mir von der künftigen Bundesregierung, dass sie dieses wichtige Thema auf die Agenda setzt und zu Beginn der neuen Legislatur angeht. Ich bin dahingehend recht zuversichtlich, weil es sich um ein sehr bedeutsames, überfälliges und notwendiges Reformvorhaben handelt, bei welchem es unmittelbar um das Retten von Leben geht.