TK: Herr Prof. Dr. Gersch, wie digital ist das deutsche Gesundheitswesen im Jahr 2024? Ist die Aufgeschlossenheit gegenüber digitalen Lösungen in den vergangenen Jahren gewachsen? Welche sind die aktuellen Herausforderungen? 

Prof. Dr. Martin Gersch: So langsam erkenne ich ein Licht am Ende des Tunnels, im Sinne einer zunehmenden Aufgeschlossenheit gegenüber digitalen Lösungen.

Nachdem wir - im internationalen Vergleich - Jahrzehnte eher im "Dornröschenschlaf" verbracht haben, wurden unter anderem durch die Erfahrungen aus der Corona-Zeit sowie mit der Europäischen Digitalstrategie einige Handbremsen gelockert. Die seit Jahren bekannten Herausforderungen sind nun noch offenkundiger, werden dafür aber jetzt auch adressiert. 

Die fehlende intersektorale Zusammenarbeit ist vielleicht der größte Hemmschuh. Prof. Dr. Martin Gersch

Nach wie vor ist in Deutschland die fehlende intersektorale Zusammenarbeit der vielleicht größte Hemmschuh - nicht nur für eine Patienten-orientierte Versorgung. Durch die ebenfalls (veralteten) sektorspezifisch-verkapselten IT-Systeme - sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich - ist hier eine praktische Zusammenführung der Daten nahezu unmöglich. Das ist das vielleicht größte Problem in Hinblick auf eine forschungstaugliche Bereitstellung von Versorgungsdaten und damit auch von deren Nutzung.

Hinzu kommt eine sehr deutsch-föderale Interpretation des Datenschutzes, die im Vergleich zu anderen EU-Staaten mehr verhindert als ermöglicht. Gut, das klingt jetzt nicht so sehr nach ‚Licht am Ende des Tunnels‘ - die gute Nachricht aber ist: Modulare Cloudlösungen können hier einen großen Schritt in die richtige Richtung weisen. Und diese Möglichkeiten dringen immer mehr auch in das Bewusstsein der IT-Verantwortlichen im Gesundheitswesen ein, wenn auch eher aus der steigenden Personalnot heraus.

Ein großer Treiber dieser positiven Entwicklungen kann auch der "European Health Data Space (EHDS)" werden. Immerhin die erste domänenspezifische EU-Verordnung, die die EU-Datenstrategie in konkretes Handeln überführt und gleichzeitig in den 27 Mitgliedsstaaten geltendes Recht wird. Die Domäne Gesundheit ist tatsächlich die erste der zentralen Domänen, die eine derartige Konkretisierung erfährt und somit Vorreiter einer zukünftigen europäischen Datenökonomie werden kann. Weitere werden folgen, zum Beispiel Energie, Wohnen und Mobilität.

Prof. Dr. Martin Gersch

Porträtfoto von Prof. Martin Gersch, Freie Universität Berlin Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Universitätsprofessor für Betriebswirtschaftslehre, Information und Organisation, Freie Universität Berlin, Germany
 

Der EHDS wurde im Sommer 2024 auf EU-Ebene konsentiert und soll bis 2026 durch nationale Anwendung Realität werden. Die letzten Gesetzesvorhaben aus dem Bundesgesundheitsministerium dienen alle auch der Schaffung notwendiger organisationaler, rechtlicher und technischer Voraussetzungen für die Umsetzung des EHDS. Hier liegen aktuell auch noch größere Risiken, wie die grundsätzlich sehr richtigen Ideen aus dem EHDS in allen 27 Mitgliedsstaaten im Detail umgesetzt werden.

TK: Ihr Forschungsprojekt Health-X dataLOFT wurde gerade bis März 2025 verlängert: Was haben Sie mit dem Projekt erreicht?   

Gersch: Wir haben mit unserem Forschungsprojekt erste notwendige technische und organisatorische Voraussetzungen für den EHDS entwickelt - eine Art Modulbaukasten, der bei Verwendung die EHDS-Vorgaben einer "sicheren Verarbeitungsumgebung" (sVU) erfüllt. 

Basis des Baukastens, unseres Techststacks*,  sind neueste und sichere IT-Technologien, die gemäß des EHDS die notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen, Versorgungsdaten transnational, in Forschung und Praxis, nutzen zu können. Und zwar sowohl für konkrete Versorgungsszenarien, zum Beispiel digitale Disease Management Programme ("Primary Use" gemäß EHDS), als auch zur Nachnutzung für Forschungszecke, zum Beispiel die Möglichkeit einer Datenspende für Forschungsstudien ("Secondary Use" gemäß EHDS). 

Das konkrete Beispiel eines fiktiven Patienten Robert Koch finden Sie als Video auf der Projektwebseite von Health-X . An diesem "Use Case mit Herz" wird auch die Innovation von jetzt möglichen Datenräumen klar erkennbar. 

Das Projekt Health-X hat unter Verwendung der Europäischen Referenzimplementierung Gaia-X alle notwendigen Komponenten entwickelt - und mit Nutzer:innen und Praxispartner:innen evaluiert -, die notwendig sind, um zukünftig sVU im Sinne des EHDS realisieren zu können. Von Seiten der FU Berlin haben wir konkrete Vorschläge für eine dauerhaft tragfähige Lösung entwickelt, von denen erste Realisierungsschritte bereits umgesetzt wurden.

So wurde zu Beginn des Jahres 2024 der Verein "EHDA e. V. (European Health Data Alliance)" gegründet, der als gemeinwohlorientiertes Innovationsökosystem alle Akteure einlädt, den jetzt verfügbaren Techstack in konkreten Anwendungsfällen zu realisieren. Der EHDA e. V. setzt dabei notwendige Standards und Spielregeln, kümmert sich aber gleichzeitig auch um die Verfügbarkeit technischer und organisatorischer Services für den Betrieb von Datenräumen als sichere Verarbeitungsumgebungen im Sinne des EHDS.

Die Data Wallet App steht nicht in Konkurrenz zur ePA. Prof. Dr. Martin Gersch

TK: Sie haben die Data Wallet App entwickelt. Was kann diese App - auch im Unterschied zur ePA?

Gersch: Die Data Wallet App (DWA) ist ein zentraler Differenzierungspunkt unserer Lösung. Hier wird tatsächlich per technischem Design die/der Bürger:in in den Mittelpunkt gestellt. Über die DWA erhält jede Person ein Dashboard über ihre/seine persönlichen Gesundheitsdaten und kann deren Verwendung für spezifische Zwecke aktiv zustimmen. Dies kann zum Beispiel als Datenspende erfolgen oder sogar ein "Digitaleinkommen" generieren, da zum Beispiel in potenziellen Szenarien die Teilnahme an einer Studie oder das regelmäßige Ausfüllen eines Tagebuchs mit einem Eurobetrag honoriert wird. 

Dies wird durch verschiedene innovative Services unterstützt, zum Beispiel den sogenannten "Studien-Tinder": Wenn Nutzer:innen dem zustimmen, werden pseudonymisierte Profile mit Bedarfen geplanter Forschungsstudien abgeglichen. Bei einem Match wird eine Studienteilnahme (als Spende oder gegen Entgelt) angeboten.

Über die DWA können die Bürger:innen auch zu resultierenden Studienergebnissen informiert werden. Die DWA realisiert aber keine zentrale Datenhaltung und erzeugt auch keine Redundanzen, sondern bietet nur einen Überblick und eine Schnittstelle zu allen verfügbaren Datenbeständen, die bei den jeweiligen Akteuren verbleiben, die sie erhoben haben beziehungsweise zu deren Vorhaltung berechtigt sind. Zum Beispiel detailliertere Untersuchungsergebnisse bei einer Fachärztin oder MRT-Bilder in einer Klinik. 

Dies steht explizit nicht im Wettbewerb zur ePA. Vielmehr ist die ePA eine Datenquelle von vielen, in der auf absehbare Zeit auch keine umfangreichen und strukturierten Daten vorliegen werden. Die ePA kann helfen, einen ersten Überblick über die Behandlungshistorie abzugleichen. Bei vielen Datenarten werden die kompletten und zum Teil sehr umfangreichen Datensätze aber bei den primären Datenhaltern verbleiben (zum Beispiel MRT-Untersuchungsreihe in einer Klinik). Auch hierüber dürfen die Patient:innen gemäß EHDS verfügen, und das ermöglicht ihnen die Data Wallet App.

TK: Wo steht Berlin, wenn es um die Entwicklung innovativer digitaler Lösungen fürs Gesundheitswesen geht?  

Gersch: Hier können wir in Berlin mehrere Standortvorteile zusammenführen, die insgesamt ein, auch im globalen Vergleich, sehr interessantes und aussichtsreiches Ökosystem bilden. 

Beginnen wir bei der Forschungslandschaft, die neben Charité und der Berliner Universitätsallianz (BUA) eine Vielzahl internationaler und renommierter Forschungseinrichtungen bietet, die nicht nur alle Daten erzeugen, aber gleichzeitig auch Daten von anderen für ihre Forschung nutzen wollen, sondern auch an neuesten technologischen Entwicklungen forschen.

Gleichzeitig haben wir eine vibrierende Start-up-Szene, die die Chancen der sich jetzt entwickelnden Europäischen Datenökonomie nutzen werden. Zum Beispiel um neue, datenbasierte Innovationen und Algorithmen, Stichwort "Künstliche Intelligenz", zu entwickeln.

Die Ansammlung an hervorragend ausgebildeten Talenten, erlebbaren Innovationen und exzellenten Forschungseinrichtungen ist hoch attraktiv für Unternehmen, die entsprechende Entwicklungen aufgreifen und in konkrete Lösungen für Gesundheitssysteme übersetzen.

Ich bin überzeugt, dass wir in Berlin sehr gute Chancen haben, die ersten EHDS-konformen Innovationen zu erleben, die nicht nur für Europa, sondern für alle Zielgruppen in der Welt interessant sind, die den bisherigen US-amerikanischen oder den aufstrebenden chinesischen Tech-Unternehmen und digitalen Plattformen ihre Gesundheitsdaten nicht anvertrauen wollen.

Zur Person

Martin Gersch hat Wirtschaftswissenschaft an der Ruhr-Universität in Bochum studiert, promoviert und habilitiert. 2007 erfolgte der Ruf an die FU Berlin. Neben seiner Professur koordiniert er dort die Gründungslehre und begleitet eine Vielzahl von (Health) Start-ups. Seit 2021 ist er Mitglied im Lenkungskreis des "Health-X" Konsortiums. Seit 2017 ist er zudem Principal Investigator für "Digitale Transformation" am Einstein Center Digital Future, seit 2024 ist er dort im Vorstand und fungiert als einer von zwei Sprecher:innen des Board of Directors.

*Techstack, auch als Technology Stack oder Technologie-Stack bezeichnet, meint alle Technologien, die zur Entwicklung einer Anwendung verwendet werden - beispielsweise Programmiersprachen, Frameworks, Datenbanken und Tools