"Pflege darf für die Menschen nicht zum Armutsrisiko werden"
Interview aus Schleswig-Holstein
Eine der größten politischen Baustellen für die neu gewählte Landesregierung ist es, dem Fachkräftemangel im Gesundheitswesen entgegenzutreten. Welche konkreten Maßnahmen die schwarz-grüne Koalition für die nächste Legislatur plant, haben wir Aminata Touré, Ministerin für Soziales, Jugend, Familie, Senioren, Integration und Gleichstellung in Schleswig-Holstein, im Interview gefragt.
TK: Sehr geehrte Frau Ministerin Touré, seit dem 29. Juni sind Sie Ministerin für Soziales, Jugend, Familie, Senioren, Integration und Gleichstellung in Schleswig-Holstein. Wie war Ihr Start im neuen Amt?
Ministerin Aminata Touré: Ich wurde von allen Menschen im Haus sehr herzlich empfangen, was den Start natürlich sehr vereinfacht hat. Dafür bin ich sehr dankbar. Die Abteilungen haben mich in der Einarbeitung durch fachliche Beratungen sehr unterstützt. Danach ging es in viele Vorstellungsrunden mit Organisationen, Gremien und so weiter. Viele kannte ich schon durch meine alte Rolle als Abgeordnete und trotzdem ist es wichtig, sich nochmal vorzustellen und gemeinsam darüber zu sprechen, welche Erwartungen man aneinander hat und welche Maßnahmen man für die Zukunft in den Blick nimmt. Und das geht kontinuierlich weiter.
Sehr kurz nach meinem Amtsantritt waren da einige Punkte zentral: Unter anderem die außerordentlichen Kostensteigerungen in der Pflege aufgrund der Tariftreueregelung und der Inflation. Wir finden es richtig, dass der Lohn steigt. Aber uns ist auch bewusst, dass dies für Pflegebedürftige und deren Angehörige eine enorme finanzielle Belastung bedeuten kann. Deshalb formulieren wir Forderungen an den Bund für eine kurzfristige Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen.
TK: Eine der größten Herausforderungen des Gesundheitswesens ist derzeit, dem Fachkräftemangel entgegenzutreten. Dazu plant die neue Regierung einen "Pakt für die Gesundheits- und Pflegeberufe" auf den Weg zu bringen. Was sind Ihre konkreten Pläne?
Touré: Die Personalsituation im Pflegebereich ist eine der zentralen Herausforderungen für die Zukunft. Deshalb haben wir als Landesregierung das drängende Problem des Fachkräftemangels zu einem Kernthema im Koalitionsvertrag gemacht. Mit dem "Pakt für die Gesundheits- und Pflegeberufe" wollen wir die Bedingungen im Bereich Ausbildung und Studium weiter verbessern und die Kapazitäten an den bestehenden und prognostizierten Bedarf anpassen. Dazu gehört auch, den Menschen flexible und vielfältige Wege in die Pflegeberufe zu ermöglichen - egal ob durch Ausbildung oder Studium. Insgesamt möchten wir möglichst vielen Menschen den Zugang zu den Gesundheits- und Pflegeberufen ermöglichen. Unser Ziel ist es, möglichst niemanden von der Berufswahl ausschließen. Wir wollen auch die Anerkennung ausländischer Abschlüsse weiter beschleunigen und damit dem Fachkräftemangel begegnen.
Mit dem "Pakt für die Gesundheits- und Pflegeberufe" wollen wir die Bedingungen im Bereich Ausbildung und Studium weiter verbessern und die Kapazitäten an den bestehenden und prognostizierten Bedarf anpassen.
TK: Laut der aktuellen Pflegestatistik des Statistikamtes Nord erhalten über 130.000 Menschen in Schleswig-Holstein Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung. Die Tendenz ist stark steigend. Was sind Ihre Ansätze, damit die Kosten der Pflegeversicherung nicht aus dem Ruder laufen?
Touré: Darauf gilt es Antworten zu finden. Gemeinsam mit dem Bund und den anderen Bundesländern arbeiten wir aktuell in einer Arbeitsgruppe daran, eine nachhaltige und generationengerechte Pflegereform auf den Weg zu bringen. Der Bund ist gefragt, die sich daraus entwickelnden Ideen umzusetzen und die dringend notwendige Weiterentwicklung der Pflegeversicherung mit Nachdruck zu verfolgen.
TK: Die Kosten, die Pflegebedürftige in Pflegeheimen für pflegebedingte Aufwendungen, Unterkunft, Verpflegung und Investitionskosten aus eigener Tasche zahlen müssen, sind in Schleswig-Holstein weiter angestiegen. Der vom Verband der Ersatzkassen errechnete Eigenanteil lag am 1.7.2022 bei durchschnittlich 2.062 Euro im Monat, 7,8 Prozent mehr im Vergleich zum 1.7.2021. Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, damit die stationäre Pflege für die Pflegebedürftigen und deren Angehörige bezahlbar bleibt?
Touré: Pflege darf für die Menschen nicht zum Armutsrisiko werden. Die Kostensteigerungen in der Pflege nehmen inzwischen Dimensionen an, die Pflegebedürftige und ihre Angehörigen aus eigenem Einkommen oft kaum noch bewältigen können. Deshalb setze ich mich beim Bundesgesetzgeber mit Nachdruck dafür ein, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörigen schnellstmöglich vor den aktuellen Kostensteigerungen geschützt werden. Unter anderem, indem der Leistungszuschlag zum Eigenanteil schon im ersten Jahr auf 25 Prozent angehoben wird und der Bund die versprochene Dynamisierung des Pflegegeldes auf die weiteren Leistungsbeträge ab 2023 ausweitet.
Deshalb setze ich mich beim Bundesgesetzgeber mit Nachdruck dafür ein, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörigen schnellstmöglich vor den aktuellen Kostensteigerungen geschützt werden.
Eins ist mir aber immer wichtig zu betonen: Wer die Eigenanteile nicht aufbringen kann, kann in Schleswig-Holstein über die Träger der Pflegeeinrichtung ein Pflegewohngeld bei dem zuständigen Kreis oder der zuständigen kreisfreien Stadt beantragen. Darüber hinaus kann ein Anspruch auf Sozialhilfe bestehen. Ich weiß, dass es für viele Menschen unangenehm ist, aber ich möchte die Menschen dazu ermutigen, sich Hilfe zu holen, wo sie vorhanden ist.
TK: Die Digitalisierung bietet Chancen, um Menschen in pflegerischen Berufsbildern zu entlasten, beispielsweise über digitale Unterstützungs- und Vernetzungsangebote. Wie sieht es in Schleswig-Holstein mit einer Pflege-Digitalisierungsstrategie aus?
Touré: Wir sind in Schleswig-Holstein mit der Digitalisierung im Bereich der Pflege bereits auf einem guten Weg. Wir wollen uns auch in Zukunft konstruktiv mit der Thematik befassen und Digitalisierungsmaßnahmen unterstützen. Die Digitalisierung bietet ein enormes Potential und vielfältige Chancen, um die Pflege zu verbessern und weiterzuentwickeln. Zum Beispiel kann der Einsatz digitaler Systeme dabei helfen, die Pflegenden bei Routinetätigkeiten, Bürokratie und bei Dokumentationspflichten zu entlasten und Prozesse zu vereinfachen. So können Pflegekräfte effektiv dort eingesetzt werden, wo sie unersetzlich sind - nämlich im direkten Kontakt mit pflegebedürftigen Menschen. Außerdem ist besonders wichtig, dass wir die Digitalisierung in Schleswig-Holstein insbesondere auch im ländlichen Raum weiterentwickeln.