"Die Diagnose einer Seltenen Erkrankung ist eine aufwendige Detektivarbeit"
Artikel aus Hessen
In Hessen leben rund 300.000 Menschen mit einer Seltenen Erkrankung wie etwa Mukoviszidose. Bundesweit sind schätzungsweise vier Millionen Menschen von einer der rund 8.000 bekannten Seltenen Erkrankungen betroffen. In den vergangenen Jahren haben sich deutschlandweit 30 Zentren für Seltene Erkrankungen gegründet, darunter sind drei Zentren in Hessen.

Wir haben mit dem Internisten und Pneumologen Professor Thomas Wagner gesprochen, der das Referenzzentrum für Seltene Erkrankungen an der Frankfurter Universitätsmedizin sowie die Frankfurter Studentenklinik für "Patienten ohne Diagnose" leitet.
TK: Was hat Sie persönlich motiviert, sich dem Thema Seltene Erkrankungen zu widmen?
Professor Thomas Wagner: An der Medizinischen Hochschule Hannover war ich als Internist und Lungenspezialist dafür zuständig, mit den Thoraxchirurgen ein Lungentransplantationsprogramm aufzubauen. Dabei stellten wir fest, dass erwachsene Patienten mit Mukoviszidose, einer Seltenen Erkrankung, auf der Schulkinderstation der Kinderklinik aufgenommen werden mussten, wenn sie zur Transplantationsvorbereitung zu uns kamen. Der Grund dafür war, dass in der Erwachsenenmedizin keine Erfahrung mit dieser Erkrankung vorhanden war. Also haben wir ein Lernprogramm ins Leben gerufen, bei dem wir uns von den Kinderärztinnen und -ärzten fit machen ließen. Erst als wir uns ausreichend vorbereitet fühlten, begannen wir, die Patienten selbst zu betreuen. Dies war eine Herausforderung, aber notwendig. Letztendlich führte es dazu, dass wir die erste Einrichtung für erwachsene Patienten mit dieser Erkrankung in Deutschland aufbauten.
Diese Erfahrung zeigt, dass man Probleme anpacken muss, wenn niemand sonst es tut. Zudem zeigt die Geschichte auch, es hat sich in den vergangenen Jahren viel getan: Mittlerweile gibt es in Deutschland zahlreiche Spezialeinrichtungen für diese Patientengruppe, eingebettet in Zentren für Seltene Erkrankungen, so dass sich Fachleute unterstützen und vernetzen können.
Erst später fiel mir auf, dass ich bereits meine Doktorarbeit über eine seltene Stoffwechselkrankheit geschrieben hatte. Zudem hatte ich, als ich noch als Endokrinologe tätig war, in der Abteilung eine Spezialambulanz für Patienten mit Akromegalie, einer ebenfalls sehr seltenen endokrinologischen Erkrankung, aufgebaut. Meine Neigung, mich mit Seltenen Erkrankungen zu befassen, war also schon früh vorhanden.
TK: Was kann man sich unter einer Seltenen Erkrankung vorstellen?
Wagner: Die Definition einer Seltenen Erkrankung in Europa ist eindeutig: Wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind, spricht man von einer Seltenen Erkrankung. Allerdings ist die Zahl unterschiedlicher Seltener Erkrankungen sehr groß, man geht von etwa 8.000 verschiedenen Seltenen Erkrankungen aus. In der Summe führt das dazu, dass Seltene Erkrankungen durchaus häufig vorkommen. Man schätzt, dass wir alleine in Deutschland mehr als vier Millionen Menschen mit unterschiedlichen Seltenen Erkrankungen haben - also eine durchaus große Zahl direkt Betroffener, und da sind die Eltern, Lebenspartner, Freunde etc., die ebenfalls unter der schwierigen Situation leiden, noch gar nicht mit berücksichtigt.
Wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind, spricht man von einer Seltenen Erkrankung.
Die meisten dieser Erkrankungen sind genetisch bedingt und werden mit dem Erbgut weitergegeben. Mukoviszidose ist ein gutes Beispiel: Es sind mittlerweile über 1.400 genetische Varianten dieser Erkrankung bekannt, die sich vor allem in einer Schädigung von Bauchspeicheldrüse und der Lungen bemerkbar machen. Dank kompetenter Versorgung in Spezialzentren konnte die Lebenserwartung und -qualität der Patienten drastisch verbessert werden. Während früher viele Betroffene im Kindesalter verstarben, hat ein heute geborenes Kind mit dieser genetischen Störung fast eine normale Lebenserwartung. Zudem ist eine Lungentransplantation heutzutage viel seltener notwendig als früher.
Ein weiteres Beispiel ist die Akromegalie, eine hormonell bedingte Erkrankung, die durch einen hormonproduzierenden Tumor in der Hirnanhangdrüse ausgelöst wird. Nicht immer kann der Tumor operativ entfernt werden, mittlerweile kann aber auch medikamentös in die Hormonregulation eingegriffen werden, um die durch die Erkrankung hervorgerufenen Störungen zu blockieren.
Prof. Dr. Thomas Wagner

TK: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen in der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen?
Wagner: An den genannten Beispielen wird deutlich, wie schwer die Diagnosestellung sein kann. Mukoviszidose lässt sich nur mit speziellen Untersuchungen nachweisen, die jedoch immer nur dann durchgeführt werden, wenn ein Verdacht besteht, also, wenn jemand daran gedacht hat. Bei Akromegalie hingegen ist die Vergrößerung bestimmter Körperregionen eigentlich ein deutlich sichtbarer Hinweis. Da dies allerdings langsam über Monate bis Jahre hinweg geschieht, fällt es oftmals nur dadurch auf, dass der Ehering nicht mehr passt oder die Schuhgröße zunimmt. Wichtig ist in jedem Fall, an die Möglichkeit zu denken, dass eine Seltene Erkrankungen vorliegen könnte, wenn Beschwerden nicht eindeutig erklärt werden können oder Therapien nicht anschlagen.
TK: Wir haben in Hessen drei Zentren für Seltene Erkrankungen. Ist das ausreichend?
Die hessischen Zentren für Seltene Erkrankungen dienen als Anlaufstelle für Patienten ohne klare Diagnose, während die eigentliche Betreuung in Spezialeinheiten stattfindet. In Frankfurt gibt es beispielsweise mehr als 20 solcher Spezialeinheiten, die unter dem Dach des Zentrums für Seltene Erkrankungen zusammenarbeiten, und alle diese Einheiten arbeiten in der Versorgung der Betroffenen mit den jeweiligen Haus- und Fachärzten zusammen. Rechnerisch könnten drei Zentren für Hessen ausreichend sein, wenn wir denn genug Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten. Da die Bearbeitung eines einzelnen Patientenfalles mit Sichtung aller Unterlagen (manchmal mehrere Aktenordner mit Befunden) mehrere Tage dauern kann, ist diese Arbeit sehr zeit- und personalintensiv. In den ersten Jahren hatten wir teilweise Wartezeiten von bis zu einem Jahr, aber mittlerweile sind wir schneller - aber es sind immer noch viele Monate. Durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz hoffen wir, diesen Prozess weiter zu optimieren.
Die Bearbeitung eines einzelnen Patientenfalles kann mit Sichtung aller Unterlagen mehrere Tage dauern und ist sehr zeit- und personalintensiv.
TK: Welche speziellen Leistungen bieten die hessischen Zentren, die andere Einrichtungen nicht leisten können?
Wagner: Das wichtigste Angebot ist die detaillierte Analyse auch kleinster Hinweise, um Krankheiten herauszufinden, die so selten sind, dass sie uns manchmal selbst nicht bekannt sind. Diese aufwendige Detektivarbeit ist in einer normalen Praxis nicht zu leisten. Durchschnittlich benötigen wir neun Arbeitsstunden für die Aufbereitung der Patientenunterlagen, stellen Sie sich das einmal in einer Hausarztpraxis vor?
Wir nehmen uns soviel Zeit, wie nötig ist, um das Problem zu lösen oder bis wir sagen können, wir finden keine Diagnose. Doch das ist nicht das Ende: Dann können wir den Patienten noch in unserem Nationalen Referenznetzwerk oder auf europäischer Ebene vorstellen. Unser Angebot ist Hartnäckigkeit und die Bereitschaft auch einen großen Aufwand zu betreiben.
TK: Inwiefern unterscheiden sich die drei hessischen Zentren?
Wagner: Jedes Zentrum hat in seinem Bereich unterschiedliche Spezialisierungen, doch die Arbeit mit undiagnostizierten Patienten folgt einem ähnlichen Muster: Eine ausführliche Erhebung der Vorgeschichte und die Sichtung aller, aber wirklich aller Vorbefunde, denn die kleinste Kleinigkeit kann entscheidend sein. An allen Standorten nutzen wir internationale Datenbanken, um weltweit verfügbares Wissen über Seltene Erkrankungen zusammenzutragen. Die wahre Stärke an unseren Zentren sind aber hochmotivierte, exzellente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich mit detektivischem Spürsinn und Hartnäckigkeit mit den jeweiligen Patientengeschichten befassen und nicht aufgeben.
TK: Welche Rolle spielen interdisziplinäre Zusammenarbeit und technische Innovationen bei der Diagnosestellung und Behandlung?
Wagner: Geduld und Sorgfalt sind entscheidend bei Vorgeschichte und der Sichtung der Akten - die teilweise sehr dick sein können. Doch noch wichtiger ist ein interdisziplinäres Team, da eine einzelne Person schnell in einer Sackgasse landen kann. Im Team sind die Erfolgschancen deutlich höher, doch zu einer Diagnose zu kommen. Mit der Sichtung und Auswertung der eingereichten Arztunterlagen verbringen wir im Schnitt die Hälfte der Zeit, dieser Teil kann sicher in Zukunft durch KI deutlich erleichtert werden. Die dann folgende Arbeit vom Beschwerdebild zur Diagnose wird immer ärztliche Aufgabe sein, aber auch hier ist klar dass die KI uns sehr gut unterstützen wird.
TK: Gibt es eine Zusammenarbeit der hessischen Zentren auf nationaler und internationaler Ebene?
Wagner: Alle deutschen Zentren arbeiten in der Arbeitsgemeinschaft der Zentren für seltene Erkrankungen zusammen. Zudem gibt es europäische Referenznetzwerke, in denen sich Experten zu spezifischen Erkrankungen austauschen. In Frankfurt koordinieren wir beispielsweise eines dieser Netzwerke für seltene Lungenerkrankungen (ERN-LUNG).
TK: Sie haben gemeinsam mit Professor Schäfer den Förderverein FUSE-Hessen e.V. gegründet. Mit welchem Ziel?
Wagner: Die Situation hat sich in den letzten Jahren schon gebessert, aber es sind zu viele Baustellen, zu viele Dinge, die besser werden müssen. Die Hessische Landesregierung unterstützt unsere Zentren, aber wir können uns nicht zurücklehnen und warten, dass etwas geschieht. Wir müssen etwas tun, damit es vorangeht, dafür haben wir den Verein gegründet, um mit Spenden gezielt Verbesserungen zu ermöglichen. Der neu gegründete Förderverein für unerkannte und seltene Erkrankungen Hessen (FUSE Hessen e.V.) setzt genau dort an: Wesentliche Ziele sind die Weiterentwicklung von Lehre, Forschung und Versorgung, eine bessere Vernetzung und ein stärkeres Bewusstsein für die Seltenen in der Öffentlichkeit. Für FUSE Hessen e.V. ist es ein großes Glück, dass Tanja Raab-Rhein, die Gattin unseres Hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein, die Schirmherrschaft übernommen hat. Dies hilft unserem Verein sehr, an Sichtbarkeit aber auch an innovativen Ideen zu gewinnen.
Wir brauchen ein stärkeres Bewusstsein für die Seltenen Erkrankungen.
TK: Wie werden die Zentren finanziert?
Wagner: Die stationäre Versorgung der Betroffenen wird seit Kurzem durch einen Zentrumszuschlag im Rahmen einer Neuregelung auf Bundesebene finanziert, aber der ambulante Bereich ist weiterhin nicht finanziell abgesichert. Dazu will ich Ihnen etwas von unseren Bemühungen um Qualitätssicherung erzählen: Wir haben unser Frankfurter Referenzzentrum zertifizieren lassen. Ich glaube, dass ich sagen darf, die Auditoren waren sehr beeindruckt, was wir da aufgebaut haben und welche Arbeit in solchen Zentren geleistet wird. Der wesentliche Mangel aus Sicht der Auditoren war unsere nicht gesicherte Finanzierung. Aus der Sicht der Patientinnen und Patienten ist das noch viel schlimmer: Nur weil sie von einer unerkannten oder seltenen Erkrankung betroffen sind, haben sie ja nicht weniger Anrecht auf eine angemessene und qualitätsgesicherte Versorgung. Das ist schon paradox: Alle geben uns diesbezüglich Recht, aber ein Finanzierungsmodell für die ambulante Versorgung ist immer noch nicht in Sicht. Ohne Drittmittel und Spenden geht es derzeit einfach nicht.
TK: Wo sehen Sie weiteren Handlungsbedarf?
Wagner: Neben der bereits gesicherten stationären Versorgung muss nun auch der ambulante Bereich finanziell stabilisiert werden, um Betroffenen eine angemessene Behandlung zu garantieren. Zudem sollte die Stärkung der Zentren für Seltene Erkrankungen - ebenso wie im hessischen Koalitionsvertrag - auch bundesweit ein zentraler Handlungsauftrag für die gesundheitspolitisch Verantwortlichen sein und auch in den Universitätskliniken fest verankert werden. Wir haben in den vergangenen Jahren zwar viel erreicht, aber es gibt noch viel zu tun.
Zur Person
Der Internist und Pneumologe Professor Thomas Wagner war bis 2017 Leiter der Pneumologie und Allergologie der Universitätsmedizin Frankfurt. Aktuell leitet er dort das Frankfurter Referenzzentrum für Seltene Erkrankungen (FRZSE) und koordiniert das Europäische Referenznetzwerk für Seltene Lungenerkrankungen (ERN-LUNG).