Der seelische Druck hat zugenommen
Artikel aus Nordrhein-Westfalen
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie werden wir noch lange spüren, sagt Prof. Dr. Georg Juckel, Ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Präventivmedizin in Bochum.
Gemeinsam mit der TK hat der vielfach ausgezeichnete Experte für die Behandlung von Depressionen, bipolaren Störungen und Schizophrenie das Modellprojekt PINAH (Psychiatrie integrativ aus einer Hand) entwickelt, das den Behandlungsansatz "ambulant vor stationär" verfolgt. Wir haben ihn gefragt, wie psychisch erkrankte Menschen durch die Corona-Pandemie gekommen sind.
TK: Herr Prof. Dr. Juckel, sind die Patientinnen- und Patientenkontakte durch die Corona-Krise zurückgegangen?
Prof. Dr. Juckel: Nein, das trifft auf uns nicht zu. Wir hatten uns sehr früh schon auf die Situation einstellen können und so sind schnell wieder Patientinnen und Patienten zu uns gekommen. Häufig ist auch der seelische Druck so groß, dass er das Infektionsrisiko überwiegt. Als Universitätsklinik und Versorgungskrankenhaus behandeln wir zudem das ganze Spektrum psychischer Erkrankungen.
Im Herbst 2020 haben wir dann aber festgestellt, dass mehr und mehr Patientinnen und Patienten sagten, sie seien durch die Ängste vor Corona und die Schutzmaßnahmen einsamer geworden. Viele klagten über schlechte Stimmung und Antriebslosigkeit, also die klassische depressive Symptomatik. Manche sind auch psychotisch oder sogar suizidal geworden.
Diese Entwicklung hält an. Mindestens jedes zweite Gespräch bei uns hat mit Corona und den speziellen Schutzmaßnahmen zu tun. Die Menschen sind zuhause, können nichts machen, es ist langweilig, so der Tenor. Die Zuversicht, dass die Pandemie nach einem halben Jahr vielleicht schnell überwunden wird, ist vorbei. Wir befürchten, dass die psychischen Belastungen in der dritten Welle noch zunehmen werden.
TK: Wie haben sich die Patientenzahlen entwickelt?
Juckel: In absoluten Zahlen haben sie zugenommen. Wir haben viele Patientinnen und Patienten, die während der Pandemie neu erkrankt sind. Es gibt aber auch sehr viele, die wieder krank wurden. Und wir bemerken einen Aufnahmedruck. Zum einen, weil die niedergelassenen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ihr Angebot zurückgefahren oder auf Videosprechstunde umgestellt haben. Zum anderen, weil viele niedrigschwellige Auffangangebote in der Krise reduziert worden sind.
TK: Was ist aus Ihrer Sicht als Psychiater das Besondere an der Corona-Krise?
Juckel: Die psychische Belastung ist größer als bei anderen einschneidenden Ereignissen wie Entlassungswellen, Naturkatastrophen oder Kriegen. Die Menschen sind zuhause, haben nur sehr wenige Kontakte und damit wenig Möglichkeiten, das mit anderen auszuagieren.
Jetzt ist unsere gewohnte Freiheit, zu der Ausgehen, Veranstaltungsbesuche, Shopping gehören, aber schon sehr lange eingeschränkt. Das ist für Ältere vielleicht weniger problematisch, für junge Menschen aber schon. Die meisten Studierenden etwa sind seit mehr als einem Jahr zuhause. An die Stelle echter Kontakte und Präsenzveranstaltungen an der Uni sind Zoom-Konferenzen getreten. Das macht die Lebensperspektive sehr eng.
TK: Welche dauerhaften Auswirkungen wird die Corona-Krise auf Ihre Arbeit haben?
Juckel: Was auf jeden Fall bleiben wird, ist das Long-Covid-Syndrom. Viele, die an dem Infekt erkrankt sind, klagen auch Monate danach noch über Geschmacksbeeinträchtigungen und Müdigkeit, das ist bekannt. Es gibt aber auch neuropsychiatrische Folgen, wie Angst, Depressionen, Zwänge, und die werden uns noch länger beschäftigen.
In einer Gesellschaft, die schon vor der Corona-Krise ein Stück weit durch Entfremdung gekennzeichnet war, wird das Social Distancing eine potenzierende Wirkung entfalten. Das Bewusstsein, dass wir bedroht und verletzlich sind, wird zunehmen. Die Menschen werden ihre privaten Kontakte stärker danach auswählen, wer ist sicher, wer unsicher, und in der Öffentlichkeit zurückhaltender sein. Diese Entwicklung wird Jahre nachwirken.
TK: Was ist das Besondere an PINAH?
Juckel: Unser Ziel ist es, die stationäre Aufenthaltsdauer psychiatrisch erkrankter Menschen zu reduzieren. Sie können nach Bedarf stundenweise in die Klinik kommen, ohne dort den ganzen Tag verbringen zu müssen oder zu übernachten.
Bei PINAH gibt es neben ambulanten, teilstationären und stationären Leistungen als viertes Segment die sogenannten stationsungebundenen Leistungen. Sie umfassen Visiten, Psychotherapien, Yogasitzungen. Darüber lässt sich sehr flexibel anpassen, wie häufig Patientinnen und Patienten bei uns sind: nicht so oft wie in einer Tagesklinik, aber auch nicht so selten wie in der klassischen Ambulanz.
Damit haben wir beste Erfahrungen gemacht. Von unseren Patientinnen und Patienten wissen wir, dass sie dieses vierte Segment für absolut wichtig halten und sehr schätzen, weil sie über die Woche gesehen sehr viel mit uns zu tun haben.
Zu den stationsungebundenen Leistungen zählt auch das sogenannte Home Treatment, der Hausbesuch. Die meisten Menschen kommen aber lieber zu uns. Sie haben den Psychiater nicht so gerne bei sich zuhause. Und sie wissen, dass sie sich Tag und Nacht bei uns melden können. Der umfangreiche Evaluationsbericht zu unserem Projekt bestätigt, dass unser Konzept funktioniert. Die stationäre Aufenthaltsdauer konnte deutlich reduziert werden.
TK: Wie nutzen Sie die telemedizinischen Möglichkeiten?
Juckel: Zum einen über Videosprechstunden. Zum anderen über TELL US!, ein Projekt, das wir mit der TK zusammen entwickelt haben und für das wir die gesamte psychiatrische Institutsambulanz digitalisiert haben: Termine ausmachen, Rezepte ausstellen, Psychoedukationsmaterialien bereitstellen, Videotelefonie, Gruppentherapie. Das Projekt ist abgeschlossen und die Auswertung zeigt eine hohe Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten. Wir hoffen daher, TELL US! als weiteres Modul in unser gemeinsames PINAH-Projekt integrieren zu können.
Auch wenn die telemedizinische Betreuung nicht die persönliche ersetzt, ist sie die Zukunft. Sie erlaubt uns, schneller und direkter - etwa per Videokonferenz - Krisenintervention zu betreiben, wenn persönliche Termine nicht in der notwendigen Frequenz vereinbart werden können und der E-Mail-Kontakt zu unpersönlich ist. Die Digitalisierung hilft uns, Krisensituationen schneller einzudämmen. Ein regelmäßiger physischer Kontakt, insbesondere zum Kennenlernen, ist aber weiterhin notwendig.
Zur Person
Prof. Dr. med. Georg Juckel studierte Philosophie (1981–1986) und Humanmedizin (1986–1995) an der Freien Universität und der Humboldt-Universität Berlin. Nach seiner Habilitation an der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München war er bis 2005 als Stellvertretender Leitender Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité in Berlin. Seit 2005 ist er Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum und Ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums Bochum sowie Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin.