Mit Mut und Inklusion gegen Einsamkeit bei chronischen Erkrankungen
Interview aus Schleswig-Holstein
Trotz einer auf den ersten Blick nicht sichtbaren chronischen Darmerkrankung lässt sich die 44-jährige Nadine Reiche nicht unterkriegen: Als großer Fußballfan nimmt sie lange Bahnfahrten auf sich, geht auf Rockfestivals und engagiert sich ehrenamtlich im Verein Chronisch Glücklich. Doch das alles erfordert viel Mut. Im Interview spricht sie über ihr Leben mit einer chronischen Erkrankung und deren oft übersehene Begleiterscheinung: Einsamkeit.
TK: Frau Reiche, für Außenstehende mag es nicht offensichtlich sein: Welche besonderen Herausforderungen stellen sich Menschen mit chronischen Erkrankungen in Bezug auf Einsamkeit?
Nadine Reiche: Der Zusammenhang zwischen chronischen Erkrankungen und Einsamkeit hat viele Facetten. Viele chronische Erkrankungen gelten als Tabuthema in der Gesellschaft - denn wer spricht schon gerne über Windeln oder Darmprobleme? Diese Scham führt dazu, dass Betroffene sich zurückziehen, anstatt offen mit ihrer Erkrankung umzugehen.
Gäbe es mehr barrierefreie Orte und Veranstaltungen, könnten Betroffene uneingeschränkt am öffentlichen Leben teilnehmen. So sitzen viele allein zu Hause, die es eigentlich gar nicht müssten.
Zudem fehlt es an Inklusion und Aufklärung in der Gesellschaft. Gäbe es mehr barrierefreie Orte und Veranstaltungen, könnten Betroffene uneingeschränkt am öffentlichen Leben teilnehmen. So sitzen viele allein zu Hause, die es eigentlich gar nicht müssten. Und was man auch nicht vergessen darf: Chronisch Kranke verbringen eben auch viel Zeit in Arztpraxen oder Krankenhäusern. Das ist Zeit, die dann nicht für Treffen mit Freunden, Familie oder das Hobby genutzt werden kann. All das zusammen kann wie ein Teufelskreis der Einsamkeit wirken. Man zieht sich zurück, weil man sich anders fühlt, und fühlt sich dann noch einsamer. Es ist ein ständiger Kampf.
TK: Bei Ihnen wurde im Alter von 30 Jahren eine chronisch entzündliche Darmerkrankung diagnostiziert. Wie hat sich Ihr Alltag seitdem verändert?
Reiche: Man sieht mir meine Krankheit zwar nicht an, aber neben Colitis ulcerosa lebe ich auch mit einer rheumatischen Arthritis und einem Fatigue-Syndrom. Das ist so, als wäre der Energietank nur zu einem Drittel gefüllt - da muss jede Aktivität wohlüberlegt sein. Vollzeit arbeiten ging deshalb nicht mehr und es kostete sehr viel Kraft mir etwas Neues zu suchen. Neben der finanziellen Belastung hat mir dabei vor allem der Kontakt zu meinen Kolleginnen und Kollegen gefehlt.
Auch private Freundschaften zu pflegen, wurde mit der Erkrankung zu einem Balanceakt. Ich wollte niemandem zur Last fallen und hatte nicht den Mut, um Hilfe zu bitten oder meine Bedürfnisse klar auszusprechen. Wie erklärt man jemandem, dass man sich heute gut fühlt, aber morgen vielleicht nicht einmal aus dem Bett kommt? Einige meiner Freunde konnten damit nicht umgehen. Diese Freundschaften sind dann in die Brüche gegangen. Es ist unglaublich herausfordernd, Freundschaften zu pflegen, wenn man ständig mit seiner Krankheit kämpft.
TK: Welche Strategien haben Sie entwickelt, um mit Einsamkeitsgefühlen umzugehen?
Reiche: Ich habe gelernt, dass der Austausch mit anderen Betroffenen unglaublich wertvoll ist. Bei diesen Treffen fühle ich mich verstanden und nicht allein. Das Internet und soziale Medien haben sich als großartige Werkzeuge erwiesen, um Kontakte zu knüpfen und zu pflegen - besonders an Tagen, an denen persönliche Treffen schwierig sind.
Ich habe auch Hobbys wie Fußball und Festivalbesuche. Dieses Jahr war ich zum 27. Mal beim Wacken Open Air! Es war zwar nur für eine Nacht, aber das hat mir extrem viel gegeben. Ich habe einen Euro-Schlüssel für die Behinderten-WCs, was mir den Aufenthalt erleichtert. Aber es gibt noch viel zu tun - mehr Toiletten für Menschen mit unsichtbaren Behinderungen oder Rückzugsorte wären ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Als ich gelernt habe, offen über meine Bedürfnisse und Grenzen zu sprechen, war das wie ein Wendepunkt. Für mich einzustehen hat nicht nur meine Beziehungen verbessert, sondern auch dazu beigetragen, trotz meiner Erkrankung ein erfülltes Sozialleben führen zu können.
Am wichtigsten ist aber eigentlich, den Mut zu haben, laut zu sein. Ich weiß, das erfordert erstmal Zeit und viel Kraft, aber es lohnt sich! Als ich gelernt habe, offen über meine Bedürfnisse und Grenzen zu sprechen, war das wie ein Wendepunkt. Für mich einzustehen hat nicht nur meine Beziehungen verbessert, sondern auch dazu beigetragen, trotz meiner Erkrankung ein erfülltes Sozialleben führen zu können.
TK: Sie engagieren sich im Verein Chronisch Glücklich e.V. Wie sieht Ihre Arbeit dort aus?
Reiche: Unser Hauptziel ist es, die Lebensqualität von Menschen mit chronischen Erkrankungen zu steigern. Wir organisieren vieles digital über unsere Webseiten und Social Media, um möglichst viele Menschen erreichen und helfen zu können. Darüber hinaus bieten wir auch eine offizielle Beratung per Telefon, E-Mail oder persönlich an - alles ehrenamtlich.
Zudem organisieren wir dreimal im Jahr Aktivitäten wie Freizeitparkbesuche oder Schwarzlichtminigolf und einmal jährlich ein Sommerfest in einer Location mit ausreichend Toiletten. Unser Wunsch ist es, nächstes Jahr einen gemeinsamen Urlaub zu machen - in dem alle die gleichen Bedürfnisse haben und sich niemand erklären muss.
TK: Welche Veränderungen braucht es in der Gesellschaft, um der Einsamkeit von chronisch erkrankten Menschen zu begegnen?
Reiche: Zunächst brauchen wir dringend eine Enttabuisierung chronischer Erkrankungen, besonders der unsichtbaren. Wir müssen lernen, dass nicht jede Behinderung sichtbar ist und man sich rechtfertigen muss, wenn man ohne Rollstuhl auf die Behinderten-Toilette geht. In England gibt es da tolle Initiativen, wie zum Beispiel, dass auf den Schildern "Nicht alle Behinderungen sind sichtbar" steht. So würden sich viele Menschen deutlich inkludierter in der Gesellschaft fühlen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Infrastruktur. Wir brauchen eine Gesellschaft, die barrierefrei im umfassenden Sinne ist. Das bedeutet nicht nur Rampen für Rollstühle, sondern auch Ruhezonen für Menschen mit Fatigue oder leicht zugängliche sanitäre Einrichtungen für Personen mit Darmerkrankungen. Nur so können Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Als Leiterin einer Selbsthilfegruppe weiß ich, dass viele Menschen Hemmungen haben, an diesen teilzunehmen. Dabei ist es ein kraftvolles Werkzeug, um der Einsamkeit zu entkommen.
Als Leiterin einer Selbsthilfegruppe weiß ich, dass viele Menschen Hemmungen haben, an diesen teilzunehmen. Dabei ist es ein kraftvolles Werkzeug, um der Einsamkeit zu entkommen. In Selbsthilfegruppen finden Betroffene Verständnis, Unterstützung und oft auch neue Freundschaften. Es ist erstaunlich, wie viel Kraft man daraus schöpfen kann, mit Menschen zu sprechen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Weitere Informationen
Webseite zum Chronisch Glücklich e.V
Ergebnisse des TK-Einsamkeitsreports Schleswig-Holsteins.